Sammlung Prinzhorn

Fliegende Paläste

› Sie sind zwar Anfang und Mitte des 20. Jahrhunderts in psychiatrischen Anstalten entstanden, könnten aber durchaus auch einem modernen Thinktank entsprungen sein. Denn manche der Werke, die in der Schau der Sammlung Prinzhorn zu sehen sind, haben etwas verblüffend Visionäres. Die Skizze eines Rundbaus etwa, die Heinrich Göttmann 1946 zu Papier brachte, lässt an einen futuristischen Wohnkomplex denken. Dessen Wände sollen sich nach der Vorstellung seines Schöpfers nach außen wölben, damit mehr Licht durch die Fenster fällt.

Die rund 160 Arbeiten der Ausstellung „Unruhe und Architektur“ laden auf die Reise in eine Welt voller Fantasie und origineller Ideen ein. Ihre Autoren stellen Gebäude dar, durch deren Wände man hindurchschauen kann, tanzende Portale, Menschen, die mit der Architektur verschmelzen, oder rot leuchtende, von einem Dach abgeschirmte Pflanzen. Dabei nutzten die Künstler alles, was ihnen in die Hände kam. Sie zeichneten auf Kalenderblätter, Toiletten- oder Aktenpapier und verwendeten Bleistift, Kreide oder Farbstifte. Emil Steiner genügten sogar die bloßen Hände: Aus Papier riss er eine filigrane Palast-Silhouette mit runden Fensterbögen, Zinnen und Spitztürmen.

Surreale Bilder

Für Thomas Röske, den Leiter der Sammlung Prinzhorn, ist ein positiver Nebeneffekt von Themenausstellungen, dass auch weniger bekannte Schätze ausgegraben werden. „Wir waren überrascht, wie viele Blätter wir gar nicht im Kopf hatten oder noch nie im Zusammenhang mit Architektur wahrgenommen haben.“ Dazu zählen für den profunden Kenner der Outsider Art die poetische Darstellung von Landschaft, Architektur und Figur von Stefan Klojer, einem Weber, der in die Regensburger Anstalt eingewiesen wurde und dessen surreale Bilder alle vor dem Ersten Weltkrieg entstanden. Fast die Hälfte der in der Schau präsentierten Werke war niemals zuvor zu sehen.

Die Schau „Unruhe und Architektur“ ist ein Gemeinschaftsprojekt mit der Internationalen Bauausstellung (IBA) in Heidelberg, die gerade Halbzeit hat und eine Zwischenbilanz zieht. Für die Ausstellung im Saal konzipierte der Architekt Stephen Craig (IBA-Kuratorium) eine monumentale Raum-im-Raum-Architektur, die den Besucher die museale Umgebung neu erfahren lässt.

Der „Garten für Halbruhige“

Eine Gelegenheit, auch einen Blick zurück in die Vergangenheit der Psychiatrie zu werfen. Denn neben den vielgestaltigen Fantasieentwürfen haben die Patienten auch ganz konkret ihre Umgebung dokumentiert, wie Zeichnungen des Heidelberger Gebäudetrakts für „Unruhige“ und des „Gartens für Halbruhige“ verdeutlichen. „Diese Entwürfe sind für die historische Rekonstruktion spannend, denn sie können dazu beitragen, dass wir noch genauer erfahren, wie es damals aussah“, erläutert Kuratorin Ingrid von Beyme.

Oft geht es jedoch nur vordergründig um Architektur. Die wogenden Bauten, die reliefartig übereinander geklebten Pappen oder die vielstöckigen Prachtbauten gewähren einen berührenden Einblick in das Innenleben der Schöpfer — das Haus wird zum Symbol des Ichs. Dies bringt auch der Titel „Unruhe und Architektur“ zum Ausdruck, der auf den ersten Blick widersprüchlich wirken mag. Er verweist einerseits darauf, dass Anstalten vor der Einführung von Psychopharmaka laute,
unruhige Orte waren, aber auch auf die Art und Weise, wie die Psychiatriepatienten Architektur dargestellt haben. „Unruhe kann man auch stilistisch auf manche Arbeit beziehen. Man hat beim Betrachten der Werke oft das Gefühl, dass etwas nicht stabil ist, wegkippt, flirrt oder sich bewegt“, schildert von Beyme die Eindrücke der Kuratoren, die die Besucher ab Mitte Mai selbst nachvollziehen können. ‹

Unruhe und Architektur
17. Mai bis 26. August 2018
Sammlung Prinzhorn, Heidelberg
Dienstag bis Sonntag 11–18 Uhr, Mittwoch 11–20 Uhr
www.sammlung-prinzhorn.de
Bildnachweis:
Paul Goesch, © Sammlung Prinzhorn, Universitätsklinikum Heidelberg

Sammlung Prinzhorn

Die Sammlung Prinzhorn ist ein Museum für Kunst von Menschen mit psychischen Ausnahme-Erfahrungen. Ihr bekannter historischer Bestand umfasst rund 6.000 Zeichnungen, Aquarelle, Gemälde, Skulpturen, Textilien und Texte, die Insassen psychiatrischer Anstalten zwischen 1840 und 1945 geschaffen haben. Dieser weltweit einzigartige Fundus wurde zum größten Teil von dem Kunsthistoriker und Psychiater Hans Prinzhorn (1886–1933) während seiner Zeit als Assistenzarzt an der Psychiatrischen Klinik der Universität Heidelberg zusammengetragen. Seit 1980 wächst die Sammlung weiter (der neuere Bestand umfasst ca. 16.000 Werke). Das Museum zeigt jährlich drei bis vier thematische Ausstellungen und möchte damit zur Entstigmatisierung psychischer Erkrankung beitragen. Als Teil des Universitätsklinikums Heidelberg ist das Haus auch eine wissenschaftliche Einrichtung, die das Schicksal der Künstler und Künstlerinnen, ihre Werke und übergeordnete Fragestellungen erforscht. Zu den bekanntesten KünstlerInnen der Sammlung zählen Harald Bender, Else Blankenhorn, Franz Karl Bühler, Paul Goesch, Emma Hauck, August Natterer und Adolf Wölfli.
AdresseSammlung Prinzhorn
 // Klinik für Allgemeine Psychiatrie // Universitätsklinik Heidelberg
 // Voßstraße 2
 // 69115 Heidelberg
 // Besucherinformation: 06221 / 56-47 39 // E-Mail: prinzhorn@uni-heidelberg.de
ÖffnungszeitenDienstag bis Sonntag 11–17 Uhr, Mittwoch 11–20 Uhr, an geöffneten Feiertagen bis 17 Uhr


In den Umbauzeiten zwischen den Ausstellungen ist das Museum geschlossen!
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