Schwierige Frage! Nun, ich denke, die kuratorische Arbeit für die Biennale lässt sich als Fortsetzung meiner früheren thematischen Ausstellungen verstehen. Die Themen, die mich interessieren, drehen sich oft um das Unsichtbare und das nicht Greifbare und um die Haltung, die die Künstler*innen innerhalb ihres Projekts einnehmen. Was ist die Geschichte hinter einer Person auf einem Foto, was verbirgt sich in einer atemberaubenden Landschaft, was sind die verschiedenen Mechanismen, die unser politisches und soziales Umfeld bestimmen? Obwohl es in der Dokumentarfotografie traditionell darum geht, eine sichtbare — und reale — Welt darzustellen, interessieren mich jene Fotograf*innen, die über die Ebene des Sichtbaren hinausgehen. Und die Betrachter*innen fragen, was sie da sehen und aus welcher Perspektive. Ich mag Fotograf*innen, denen es gelingt, zu enthüllen, was sich hinter einer bestimmten (virtuellen) Realität verbirgt. Bevor Sie angefangen haben, Fotografie-Ausstellungen zu kuratieren, haben Sie an der Filmhochschule in Amsterdam studiert und rund 10 Jahre als Filmeditorin gearbeitet. Inwieweit beeinflussen diese Erfahrungen Ihre Arbeit als Ausstellungsmacherin?
Im Laufe der Jahre wurde mir klar, dass beide Berufe viel mehr gemein haben, als ich dachte, als ich vor etwa 15 Jahren den Wechsel vollzog. In beiden Fällen ist es meine Aufgabe, visuelles Material zu ordnen und zusammenzustellen, das von Künstler*innen, seien es Regisseur*innen, Filmemacher*innen oder Fotograf*innen, kommt. Wenn ich einen Film schneide oder einen Ausstellungsraum gestalte, versuche ich, mit den fotografischen Bildern, oft erweitert um andere Materialien und Medien, eine Erzählung so zu konstruieren, dass ich die Betrachter*innen an die Hand nehme und sie einlade, sich auf die Standpunkte der Macher*innen einzulassen. Ich spreche lieber von Erzählungen als von Geschichten, denn Letztere sind gerichteter und dadurch klarer. Bei Erzählungen geht es darum, wie eine Geschichte erzählt wird und wie wir als Kreative in der Lage sind, eine andere Perspektive anzubieten.Sie beschäftigen sich vor allem mit Projekten aus dem Bereich der zeitgenössischen Dokumentarfotografie, die sich oft zwischen Kunst, Journalismus und Aktivismus bewegen. Warum setzen Sie diesen Schwerpunkt in Ihrer Arbeit?
Ich finde es wichtig, dass eine fotografische Arbeit nicht nur ästhetisch ist, sondern wir daraus auch etwas lernen können, und dass die Arbeit im besten Fall entweder eine emotionale Reaktion auslöst oder eine neue Perspektive auf entscheidende Themen wie zum Beispiel den Klimawandel, Migration und Inklusion ermöglicht. Als Teenager bin ich kaum auf die Barrikaden gegangen, um für politische oder soziale Themen zu kämpfen, und das mache ich auch heute nicht. Ich habe aber immer die langen Geschichten in Zeitungen und Magazinen gelesen und versucht, die Welt zu verstehen. In diesem Sommer habe ich den Roman „Die Wurzeln des Lebens“ von Richard Powers gelesen, der genau das trifft, was wir im Moment in Bezug auf die ökologische Krise erleben. Powers plädiert mit seinen Figuren für biologische Vielfalt und dafür, ein neues Gleichgewicht zwischen Mensch und Natur zu finden, da wir sonst verloren sind.2018 haben Sie zusammen mit Anna-Kaisa Rastenberger die Publikation „Why exhibit?“ (auf Deutsch: „Warum ausstellen?“) herausgegeben. Wie lautet Ihre Antwort auf diese Frage?
Ich denke, dass wir uns diese Frage im Kulturbereich immer wieder stellen müssen, da sie sich auf das Ausstellen im weiteren Sinn beziehen kann, also auch auf Theater, Musik, Film oder Social-Media-Plattformen. Museumsräume oder vielmehr Räume, die der Kunst gewidmet sind, sind dringend nötig. Heutzutage scheinen diese Räume zu den wenigen freien und sicheren Orten zu gehören, an denen man sich — wenn auch sicherlich nicht neutral — treffen und an denen man offen und respektvoll Ideen miteinander austauschen kann. Wir müssen uns um diese Räume kümmern und sie so weit wie möglich für ein breites Publikum öffnen, weil wir sonst nur Gleichgesinnte erreichen. ‹Iris Sikking wurde 1968 in Amsterdam geboren, wo sie als freie Kuratorin lebt und arbeitet. Sikking ist ausgebildete Fotohistorikerin und Filmeditorin. Seit über 15 Jahren verwirklicht sie internationale Projekte in Kooperation mit Künstler*innen, konzipiert thematische Ausstellungen (u.a. für FOMU Antwerpen, Unseen Foundation Amsterdam) und veröffentlicht Fotobücher sowie Online-Projekte. 2018 war Sikking Chefkuratorin des Krakow Photomonth Festivals.„Trigger“-Magazin
Im November wird eine neue Ausgabe des Magazins „Trigger“ erscheinen, die in Zusammenarbeit zwischen der Biennale für aktuelle Fotografie und dem renommierten Fotomuseum (FOMU) in Antwerpen entsteht und sich dem Thema „Care“ (auf Deutsch: u.a. „Pflege“, „Fürsorge“) widmet. Das Magazin greift Aspekte der von Iris Sikking kuratierten Biennale 2022 auf und wird auch in den teilnehmenden Ausstellungshäusern erhältlich sein.
Biennale für aktuelle Fotografie
Die Biennale für aktuelle Fotografie findet alle zwei Jahre in den wichtigsten Ausstellungshäusern der drei Städte Mannheim, Ludwigshafen und Heidelberg statt. Gezeigt werden Themenausstellungen von international renommierten GastkuratorInnen. Knapp 4000 Quadratmeter Ausstellungsfläche bietet Platz für eine vielfältige Betrachtung aktueller fotografischer Positionen und schafft den Rahmen, über ein Medium nachzudenken, das unsere Gesellschaft prägt wie kaum ein anderes.
TerminSA 19. März bis SO 22. Mai 2022
AdresseBiennale für aktuelle Fotografie e.V. // E 4,6 // 68159 Mannheim // E-Mail: info@biennalefotografie.de
SpielorteLudwigshafen: Wilhelm-Hack-Museum, Kunstverein // Mannheim: Forum Internationale Photographie (FIP) & ZEPHYR, Port25 – Raum für Gegenwartskunst, Kunsthalle // Heidelberg: Kunstverein