Wunder der Prärie

Kopf oder Zahl?

› Die Lichter blinken in allen Farben. Quacksalber preisen ihre Heilmittel an und Attraktionen locken Neugierige. Solch nostalgische Jahrmarkt-Bilder möchte Tanja Krone in ihrem „European House of Gambling“ wach werden lassen. Mit ihm errichtet die Berliner Performance-Künstlerin eine Kasinohölle und einen Zirkus zugleich und verstrickt die Besucher in ein fünf Stunden dauerndes Spiel. Eine Frage in diesem Spielelabor: Funktionieren die Rituale des Glückspiels und des Wettbewerbs in hierarchiefreien beziehungsweise egalitären Gesellschaften als zentraler Hebel des Ausgleichs? Erweist sich eine regelmäßige Umverteilung von Besitz und die Chance auf individuellen Prestigegewinn langfristig als integrativ? Vor diesem Hintergrund entwickeln Krone und der Spieledesigner Daniel Boy ihre Lotterie. Eine abgewandelte Form von Black Jack gehört ebenso zum Spielebaukasten wie ein Glücksrad. Da kann es schon ausreichen, eine Brille auf der Nase zu haben oder Zahnersatz zu tragen, um den Hauptgewinn zu kassieren.

Ist das Los demokratischer?

„Es stellt sich die Frage, ob das Los nicht das demokratischere Element ist“, betont Festival-Leiter Jan-Philipp Possmann und bezieht sich dabei auf die aleatorische Demokratietheorie, die David Van Reybrouck vertritt. Der belgische Historiker beschreibt in seinem 2016 erschienenen Buch „Gegen Wahlen“ die grassierende Demokratiemüdigkeit und den elitären Charakter von Wahlen. Welcher britische Wahlberechtigte etwa wusste schon, was der Brexit bedeutet? Ist das Losverfahren, wie es im attischen System bei der Vergabe von bestimmten politischen Ämtern angewandt wurde, möglicherweise demokratischer?
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    Alles nur ein Spiel – Tanja Krone lädt die Besucher ein, in ihrem „European House of Gambling“ … die Möglichkeiten des Spiels als politisch-gesellschaftliche Instanz zu erkunden.
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    … die Möglichkeiten des Spiels als politisch-gesellschaftliche Instanz zu erkunden.
Von Juli an tingelt Tanja Krone mit ihrem Team von Ort zu Ort. In Stuttgart eröffnet der fahrende Zirkus zum ersten Mal. Mannheim ist eine weitere Station. Aber es soll auch über die Grenze nach Serbien und Griechenland gehen. „Meine Sehnsucht ist es, mit einem Volkstheater herumzuziehen und Marktplätze zu kreieren. Auch früher wurde auf den Marktplätzen Politik gemacht oder über politische Ereignisse gesprochen“, hebt die Performerin hervor. Ganz wichtig ist ihr dabei, mit den Besuchern ins Gespräch zu kommen, auch und insbesondere mit solchen, die mit Hochkultur nicht so viel anfangen können. „Mich interessiert der kommunikative Aspekt von Kunst“, resümiert sie.

Das Publikum als Ego-Shooter

Für Julian Hetzel ist dies ebenfalls ein zentraler Ansatz. „Ich will kein Mitmachtheater, bei dem man sich zum Narren macht, sondern ich entwickle Projekte, bei denen die Zuschauer ihre eigenen Geschichten, ihre Erfahrungen und Fragen einbringen“, erläutert der Performance-Künstler, der in Utrecht lebt. Am Frascati Theater in Amsterdam hatte sein „The Automated Sniper“ bereits Premiere. Im September präsentiert er die performative Installation beim Mannheimer Festival „Wunder der Prärie“. Sie beschäftigt sich mit dem Zusammenhang von Kriegsführung und Militainment.

Die Scharfschützen sind bei „Automated Sniper“ keine auf Dächern lauernden Auftragskiller, sondern eine Gruppe von Menschen, die kurz zuvor noch harmlose Theaterbesucher waren. Mit Kopfhörern, Mobilgeräten und Gamepads ausgestattet, schlüpfen sie in die Rolle von Ego-Shootern und steuern von außen eine Waffe, die im Bühnenraum, in dem sich die restlichen Zuschauer befinden, installiert ist. Auf diese Weise können sie zwei Performer, die auf der Bühne Objekte zusammenbauen und ordnen, mit Farbkugeln beschießen, während eine Stimme aus dem Off das Geschehen kommentiert. Die Zuschauer vor der Bühne haben genauso wie die Performer auf der Bühne in diesem asymmetrischen Konflikt keine Möglichkeit zurückzuschlagen.
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    Vorsicht, Scharfschützen! Julian Hetzel präsentiert bei Wunder der Prärie …
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    … „The Automated Sniper“, das den Drohnenkrieg in eine performative Installation übersetzt und …
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    … sich mit dem Verhältnis von Virtualität und Realität, von Gewalt und Distanz beschäftigt.
„Es geht mir um das Phänomen der Distanz im Drohnenkrieg, in dem sich eine Seite vom Schlachtfeld zurückzieht und von einer komfortabel klimatisierten Kommandozentrale aus ihre Waffen ins Ziel führt“, erläutert Hetzel. Ein immer größerer Abstand zwischen den Kämpfenden scheint seit jeher eines der Hauptziele bei der Entwicklung von Waffen gewesen zu sein. Standen sich in Urzeiten die Kontrahenten im Faustkampf gegenüber, schmiedete man später Messer und Schwerter, baute dann Gewehre, Bomben und Raketen, bis man sich heute unbemannter, gleichsam entmenschlichter Drohnen zur Kriegsführung bedient.

Der Krieg als Game

Der Drohnenkrieg steht darüber hinaus auch für die Gamifizierung von Gewalt: Der moderne Soldat ist nicht unmittelbar in das Geschehen involviert, auf dem Bildschirm erscheint der Kriegsschauplatz virtuell — der Krieg wird für den Drohnenkämpfer zum Computerspiel. Für die Angegriffenen hat dieses vermeintliche Spiel jedoch durchaus verheerende Auswirkungen, die Hetzel ebenfalls thematisiert. Seine Performer werden nämlich zur Zielscheibe der ferngesteuerten Farbbälle — und spüren ganz real die Folgen: „Die beiden haben wirklich Schmerzen und bekommen blaue Flecken“, erläutert Hetzel.

Für Festivalleiter Jan-Philipp Possmann sind solche Konstellationen essenziell, denn mit Wunder der Prärie möchte er die Besucher mit aktuellen Diskursen konfrontieren und ihnen gleichzeitig die Möglichkeit geben, zu partizipieren und eine Position zu solchen Fragen zu beziehen. Sowohl bei Tanja Krones „European House of Gambling“ als auch bei „The Automated Sniper“ sei der Zuschauer kein passiver Beobachter, sondern ein aktiver Mitgestalter: „Die Frage der Verantwortung — vom Luftwaffensoldaten, aber auch von uns allen — wird hier sehr konkret nachvollziehbar und doch voller Ironie durchgespielt.“ ‹


Tanja Krone ist als Regisseurin, Kuratorin, Performerin und Musikerin in verschiedenen künstlerischen Kontexten im In- und Ausland tätig. Seit 2007 beschäftigt sie sich mit dem Aspekt der Teilhabe in der Kunst. Die Settings reichten dabei von der Gründung der weltgrößten Frauenrockband über die Erfindung utopischer Staaten in Afrika bis hin zur Schaffung einer modernen Heilsarmee in Berlin. Zusammen mit ihrem ehemaligen Kollektiv Maiden Monsters tourte sie durch Europa, um mit „Sound of Crisis“ eine alternative Geschichte der „Krise“ zu schreiben. Im Jahr 2014 reaktivierte sie einen historischen „Vagabundenkongress“ in Stuttgart.


Julian Hetzel arbeitet als Performance-Künstler, Musiker und bildender Künstler. Aufgewachsen in der Nähe von Offenburg, hat er an der Bauhaus Universität Weimar und bei DasArts in Amsterdam stu- diert. Seine Arbeiten haben eine politische Dimension und einen dokumentarischen Ansatz. Sie wurden unter anderem beim Spielart-Festival in München, bei Theater der Welt in Mannheim, beim Steirischen Herbst in Graz, bei Brut in Wien, am Kaai Theater in Brüssel und in den Espacios Revelados in Buenos Aires gezeigt.

Wunder der Prärie

Alle zwei Jahre wird die Metropolregion Rhein-Neckar zum Zentrum internationaler Live-Art: Mit Performance, Tanz und genreübergreifenden Projekten an der Schnittstelle zu Theater und Bildender Kunst steht „Wunder der Prärie“ seit 2004 für die Präsentation aktueller Kunstformen im Südwesten der Republik. „Wunder der Prärie“ zählt zu den 15 Top-Festivals der Metropolregion Rhein-Neckar und steht unter der Schirmherrschaft von OB Dr. Peter Kurz.
TerminDO 14. bis SO 24. September 2017
Adressezeitraumexit // Hafenstraße 68 // 68159 Mannheim-Jungbusch // Telefon: 0621 3709831 // E-Mail: info@zeitraumexit.de
Spielortezeitraumexit
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