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Eine Welt auf 40 Quadratmetern – Die Stuttgarter Künstlerin Ülkü Süngün hat das Leben der Kleinhändler im Stadtteil Jungbusch in einer Video-Installation porträtiert.
› Draußen glänzen Orangen, Äpfel, Tomaten und Zitronen in der Sonne — man denkt spontan an Urlaub im Süden. Im Laden brummt die Kühlanlage. Hinter der Theke steht Selahatin Turan, 52, Bart, Steppjacke, und lächelt freundlich in die Kamera, neben ihm ein Baum aus bunten Lollis, dahinter das Regal mit Tabakwaren. Plötzlich huscht ein Kunde durchs Bild. Das zehn Minuten lange Video gibt ein authentisches Bild des Jungbusch-Supermarkts und seines Inhabers wieder. Sein Alltag ist typisch für die Familienbetriebe, die Bäckereien, die Kioske und die Spezialitätengeschäfte, die sich im Erdgeschoss der Gründerzeithäuser eingemietet haben und das Straßenbild im Jungbusch prägen. Ihre Besitzer sind von früh morgens bis spät abends auf den Beinen. So auch Turan. Schon um halb fünf beginnt sein Tag auf dem Großmarkt. Um sieben öffnet er sein Geschäft und erst um 22 Uhr schließt er es wieder.
In ihrer Installation „Gemeingut Jungbusch“ zeigt die in Istanbul geborene und heute in Stuttgart lebende Künstlerin Ülkü Süngün sechs in Dauerschleife laufende Videos mit Interviews von Kleinhändler*innen. Diese werden von Foto-Projektionen unterbrochen, auf denen dieselben Geschäfte, jedoch leer und ohne die Verkäufer*innen hinter dem Tresen zu sehen sind. Die Abschlusspräsentation ist Teil ihrer einjährigen Residency, bei der sie die Funktionen von Migration und Kultureinrichtungen im Zusammenhang mit der Gentrifizierung des Jungbuschs untersucht und sich mit unterschiedlichen Perspektiven beschäftigt hat.
Ein paar Quadratmeter LadenDazu organisierte sie Veranstaltungen mit türkischstämmigen Filmemacherinnen, lud Architekt*innen und Stadtplaner*innen aus ganz Deutschland zum Austausch ein und führte intensive Gespräche im Viertel. Dabei erfuhr sie, wie sehr auch die migrantischen Kleinhändler*innen durch die Gentrifizierung bedroht sind. Denn wenn die migrantische Kundschaft wegzieht, weil sie sich die Mieten nicht mehr leisten kann, brechen auch die Umsätze in den Läden ein. Schnell ist ihr klar geworden, dass die Kleinhändler*innen, deren Alltag sich auf ein paar Quadratmetern Ladenfläche abspielt, in den Debatten zur Stadtteilentwicklung zu kurz kommen. Die Ursachen dafür sind komplex. „Man möchte sich nicht exponieren, nicht politisch hervortreten, um die Kundschaft nicht zu vergraulen. An die Politiker werden sowieso keine Hoffnungen geknüpft, weil man sich noch nie vertreten gefühlt hat“, erklärt Süngün die Beweggründe, sich nicht an den Diskussionen zu beteiligen.
Die Ergebnisse von Süngüns dokumentarischem Kunstprojekt haben Jan-Philipp Possmann, den Leiter von zeitraumexit, überrascht: „Mir war zuvor gar nicht so klar, wie sehr diese Kleinhändler das Selbstverständnis des Stadtteils prägen. Ülkü Süngün hat Informationen und Sichtweisen gesammelt, die die offiziellen Vertreter, die Kommunalpolitiker, das Quartiersmanagement, aber auch die Kultureinrichtungen nicht mitbekommen, weil sie auf einer anderen Gesprächsebene agieren.“ Darin liegt auch der Wert von Projekten, die soziokulturelle Arbeit mit experimenteller Kunst verknüpfen. „Künstler gehen subjektiv an ein Thema heran. Ihr Ziel ist es nicht, objektiv gültige Zahlen zu liefern, und trotzdem kann ihr Blick anderen helfen“, erklärt Possmann.
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Die Mannheimer Regisseurin Lea Aderjan spürt mit ihrem Projekt „Rodina“, bulgarisch für Heimat, den Lebensgeschichten der bulgarischen Migrant*-innen nach. (Foto: Lys Y Seng)
Gemeinsam mit Lea Aderjan führt zeitraumexit das Experiment „Social Body Building“ fort, das über das Modellprogramm „Utopolis — Soziokultur im Quartier“ gefördert wird. Die Mannheimer Regisseurin arbeitet gerne mit den sogenannten Experten des Alltags zusammen. Mit Langzeitarbeitslosen realisierte sie etwa ein Stück, das am Mannheimer Nationaltheater gezeigt wurde. Der Jungbusch ist für sie ein Stadtteil mit vielen emotionalen Verknüpfungen, obwohl sie dort nie gelebt hat. „Schade nur“, bedauert Aderjan, „dass er für die meisten lediglich eine Station ist. Man wird dort nicht sesshaft, sondern nutzt nur die Clubs, die Kneipen, die Kulturveranstaltungen.“ Im Zentrum ihres Projektes „Rodina“, bulgarisch für Heimat, stehen die bulgarischen Bewohner dieses Viertels. Unterstützt vom Verein „Kulturbrücken“ möchte sie in Gesprächen die Lebensgeschichten von Vertretern dieser Community kennenlernen. In welcher Form sie diese künstlerisch umsetzt, entscheidet sich in einem Work-in-Progress. „Aus den Interviews werden sich die Themen herauskristallisieren und es wird sich dabei zeigen, ob die Beteiligten Lust haben, sich selbst auf die Bühne zu stellen und ihre Geschichte zu erzählen.“ ‹
Rodina — Audiowalk, 05. Juli 2020, 19 Uhr, im Rahmen des Theaterfestivals Schwindelfrei, weitere Informationen und Veranstaltungstermine: www.zeitraumexit.de
zeitraumexit
zeitraumexit ist ein Ort der Öffnung und gibt der Neugier und dem interessierten Hinterfragen Raum. Im Fokus stehen das aktuelle Geschehen, aktuelle Tendenzen und Strömungen in der Gesellschaft und wie Künstler mit dieser komplexen Welt umgehen. Dabei geht es sicher nicht um Antworten oder Wahrheiten, sondern vielmehr die Suche und das gemeinsame Befragen. Dabei lässt sich zeitraumexit nicht auf eine bestimmte Kunstform festlegen.Vielmehr stehen die Möglichkeiten im Mittelpunkt, die aktuelle Künste jenseits des Mainstreams anbieten, um Prozesse und Phänomene unserer Gesellschaft zu erforschen. Genau diese Freiheit ermöglicht es, ein Programm zu zeigen, das eine Auseinandersetzung von Kunst und Gesellschaft, deren Wechselwirkungen, Abhängigkeiten und Möglichkeiten wagt.
AdresseHafenstraße 68–72 // 68159 Mannheim/Jungbusch