› Das vielleicht berühmteste Stück amerikanischer Musik ist eines, das in den „Standpunkten“ gar nicht auf dem Programm steht: John Cages 4‘33‘‘. Ein Stück, das scheinbar keine Musik ist — denn keine einzige Note erklingt. Und doch ist es ein musikalisches Werk: mit einer vorgeschriebenen Länge, Anfang und Ende, ausführenden Musikern und Publikum, dessen Reaktion buchstäblich „die Musik macht“. Kein Werk ist besser geeignet zu erklären, warum die Musik der USA — und nicht nur die von John Cage — so einzigartig ist: Es ist die Unbekümmertheit, mit der man musikalische Dogmen ignoriert, es ist die Fähigkeit, radikal das als gesetzt Geltende infrage zu stellen und sich alle Freiheiten der Welt zu nehmen, Musik vollkommen neu zu denken.Alle bedeutende US-amerikanische Musik handelt im emphatischen Sinne von dieser Freiheit: Dies ist ihr einzigartiger Beitrag zur Musikgeschichte. Ein Beitrag, der ohne die politische Geschichte der Freiheit Amerikas nicht zu denken ist. Die Erklärung der Menschenrechte, die Verfassung der USA: Es sind Gründungsdokumente eines individuellen Freiheitsbegriffs, der in der europäischen Aufklärung zuerst Form annahm. Die Krisen der FreiheitGewiss: Die grundlegenden Überzeugungen der USA waren immer auch in Gefahr, man denke an die Stichworte Watergate und Guantanamo und an den verantwortungslosen, manipulativen politischen Umgang mit Fake News in jüngster Zeit. Deshalb erinnern die „Standpunkte“ mit Leidenschaft an die Verantwortung zur Freiheit und damit an die Ideale der Aufklärung, indem Werke amerikanischer Komponisten den Komponisten der europäischen Aufklärung — Haydn, Beethoven, Mendelssohn — gegenübergestellt werden.
Die Freiheiten, die sich die Komponisten der USA nahmen und nehmen, sind dabei ganz unterschiedlicher Art: Charles Ives experimentierte mit einer Musik der unterschiedlichen Geschwindigkeiten und simultanen Tonarten. Morton Feldman löste die Fesseln zwischen Notation und Interpret. Philipp Glass schuf, inspiriert von der Musik Asiens, einen entspannten amerikanischen Gegenentwurf zur strikt-dogmatischen seriellen Musik Europas. Scott Joplin verband in seinen Rags die Tradition des romantischen Klavierstücks mit afroamerikanischer Folklore. Im Jazz eines Benny Goodman mischen sich schwarze und weiße Überlieferungen. Frederic Rzewski schließlich stellt unterschiedlichste kompositorische Techniken eigenwillig in den Dienst einer eminent politischen Musik. Erstaufführungen und GegenweltenAll diese Komponisten kommen in den „Standpunkten“ 2018 zu Wort und fügen sich zu einem umfassenden Porträt der Vereinigten Staaten des musikalischen Amerika. Charles Ives’ „Concord Sonata“ ist das Klavierwerk der USA schlechthin, interpretiert von Marc-André Hamelin, der neben Igor Levit der zweite prägende Pianist der „Standpunkte“ sein wird. Neben Ives’ pianistisches Klanggebirge tritt das neue, achte Streichquartett von Philip Glass, gespielt vom führenden amerikanischen Streichquartett für Neue Musik, dem JACK Quartet. Ebenfalls eine europäische Erstaufführung: Rzewskis „Demons“ für Violine und Klavier. Der in Deutschland immer noch zu entdeckende amerikanische Geiger Benjamin Beilman hat dieses für ihn geschriebene Werk für sein Heidelberger Rezital ausgewählt. Zu später Stunde dann eine Gegenwelt: Morton Feldmans nahezu bewegungslose Meditation „Piano and String Quartet“ (mit Hamelin und den JACKs). Und während das famose Julian Bliss Septet einen ganzen Abend Benny Goodman widmet, nimmt sich Igor Levit erstmals die Rags von Scott Joplin vor. Musikalisches Anti-Hitler-ManifestIgor Levit war es auch, der den Wunsch äußerte, mit Arnold Schönbergs „Ode to Napoleon Buonaparte“ die „Standpunkte 2018“ zu eröffnen. Vor dem Konzert führt Bundestagspräsident a. D. Norbert Lammert als Kenner der USA und Musikliebhaber mit dem Vortrag „FREIHEIT. Improvisationen über ein zentrales Thema der Menschheitsgeschichte“ in das Thema des viertägigen Festivals-im-Festival ein. 1942 in den USA entstanden, ist die „Ode“ als musikalisches Anti-Hitler-Manifest eine Ikone der Exilmusik. Auch das gehört zu den Freiheiten Amerikas: Verfolgten Komponisten Europas einen Zufluchtsort geboten zu haben. Ernst Krenek, Paul Hindemith und Hanns Eisler gehörten dazu, ihre Kammermusik ist Thema eines Vortrags und eines Wandelkonzerts.Dass manche der ins amerikanische Exil geflüchteten Komponisten später auch in den USA politisch verfolgt wurden, ist leider ebenfalls ein Teil der Wahrheit. „Über die Freiheit und Unfreiheit Amerikas“ lautet deshalb das Thema eines von Igor Levit angeführten Podiums, das in Zusammenarbeit mit dem Deutsch-Amerikanischen Institut Heidelberg veranstaltet wird. Die individuelle und künstlerische Freiheit, sie will täglich verteidigt werden, auch — und aktuell ganz besonders — in den USA. ‹Standpunkte
insgesamt 13 Veranstaltungen,
22. bis 25. März 2018,
www.heidelberger-fruehling.de
Fotonachweise
Preview: Shervin Lainez; Aufmacher: Robbie Lawrence (Levit); Silder: Shervin Lainez, LichtblickAchim Melde (Lammert)
insgesamt 13 Veranstaltungen,
22. bis 25. März 2018,
www.heidelberger-fruehling.de
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Preview: Shervin Lainez; Aufmacher: Robbie Lawrence (Levit); Silder: Shervin Lainez, LichtblickAchim Melde (Lammert)
Heidelberger Frühling
Der Heidelberger Frühling gilt laut Deutschlandradio als „eines der innovativsten Musikfestivals in Deutschland“ und zieht in über 100 Veranstaltungen mehr als 47.000 Besucher an. Neben hochkarätig besetzten Konzerten, innovativen Produktionen und Formaten gilt ein besonderes Augenmerk des Festivals der mit Heidelberg eng verbundenen Gattung des Liedes.
TerminSA 17. März bis SA 21. April 2018
AdresseInternationales Musikfestival Heidelberger Frühling gGmbH // Friedrich- Ebert-Anlage 50 // 69117 Heidelberg
SpielorteStadthalle Heidelberg und zahlreiche weitere Spielorte in Heidelberg