Interview 1 — Oliver Frljic
„Ich bin nicht sehr optimistisch“
Regisseur Oliver Frljic entwickelt bei den Schillertagen ein Stück zu Flucht und Asyl. Ein Gespräch über „Second Exile“, das bei den 19. Internationalen Schillertagen Premiere hat.
› Was hat es mit dem Titel „Second Exile“ auf sich?
Ich habe Bosnien während des Krieges im ehemaligen Jugoslawien im April 1992 verlassen und bin nach Kroatien gegangen. Das war der Beginn meines ersten Exils, und im Grunde hat dieses Exil niemals geendet. In den Jahren 2014/15 war ich Intendant des Kroatischen Nationaltheaters in Rijeka, dort haben wir uns in der künstlerischen Arbeit intensiv mit den Geschehnissen und Auswirkungen des Krieges auseinandergesetzt. Daraufhin erhielt ich Morddrohungen und wurde als Staatsfeind bezeichnet. Jetzt befinde ich mich wieder in einer Form von Exil. Ich arbeite im Moment überwiegend in Deutschland. Ich fühle mich als irgendetwas zwischen Gastarbeiter und Asylbewerber, obwohl ich mich als EU-Bürger faktisch frei bewegen kann.
Vor kurzem haben Sie in Warschau einen Abend über die Rolle der katholischen Kirche in Polen inszeniert. Die polnische Staatsanwaltschaft leitete ein Ermittlungsverfahren gegen Sie ein.
Die Inszenierung in Polen war beim Publikum sehr erfolgreich, wurde aber massiv von der rechtsgerichteten Presse angegriffen. Zurzeit wird in einigen ehemalig sozialistischen Ländern die Demokratie dazu benutzt, unterschiedliche Formen von Diskriminierung zu installieren. Wir werden Zeugen radikaler Veränderungen der politischen Paradigmen — nicht nur in Europa, sondern weltweit.
Was sind die konkreten Pläne für das Mannheimer Projekt? Sie werden mit fünf Akteuren aus dem Ensemble des Nationaltheaters sowie jeweils einem Schauspieler aus Bosnien und aus Kroatien arbeiten.
Die Biografien und Persönlichkeiten der einzelnen Akteure bilden das Ausgangsmaterial. Wir beschäftigen uns mit einer konkreten Zeitspanne: September 1994 bis Januar 1995. In diesem Zeitraum war ich mit meinen Eltern in Soest als Asylbewerber registriert. Nun möchte ich herausfinden, wie die Lebenssituation der anderen in dieser Zeit aussah. Die Schauspieler aus dem ehemaligen Jugoslawien bringen ihre ganz eigenen Erfahrungen in das Projekt ein. In dieser Art von Projekten benutze ich keinen geschriebenen Text. Ausgangspunkt sind die Erzählungen der Schauspieler. Ich habe auch keine vorgefertigte Struktur im Kopf. Alles entsteht aus der Probenarbeit.
Sie leben nun schon eine Weile in Deutschland. Haben Sie inzwischen ein Gefühl für dieses Land entwickelt?
Nach allem, was ich in der letzten Zeit erlebt habe, fühle ich mich in Deutschland sehr wohl. Ich muss hier nicht angstvoll über meine Schulter blicken und fürchten, im Gefängnis zu landen, wenn ich mich kritisch äußere. Populistisches, intolerantes Denken greift generell immer stärker um sich. Wenn man nicht bereit ist, diese Rhetorik und diese Werte zu akzeptieren, hat man keine andere Wahl, als sein Land zu verlassen oder zu verstummen und in gewisser Weise unsichtbar zu werden. Ich habe keine Ahnung, wie die Welt in fünf Jahren aussehen wird. Aber ich bin nicht sehr optimistisch. ‹
Second Exile
Premiere: 22. Juni 2017, 19.30 Uhr
Nationaltheater Mannheim, Schauspielhaus
Interview 2 — SIGNA
„Wir sind fanatisch, was Details angeht“
In „Das Heuvolk“ der Performance-Gruppe SIGNA begegnen die Besucher einer bislang unbekannten Glaubensgemeinschaft. Regisseurin Signa Köstler über ihre Arbeitsweise und ihre Produktion für Mannheim.
› SIGNA zählt zu den innovativsten Theater- und Performance-Gruppen Europas. Was erwartet die Besucher einer Vorstellung von SIGNA?
Auf jeden Fall kein Theater im klassischen Sinn. Wir kreieren in verlassenen Gebäuden eine begehbare, in sich geschlossene Welt, die von einer Vielzahl von Figuren bewohnt wird. Die Kommunikation mit den Besuchern basiert auf Improvisationen innerhalb eines fiktiven Rahmens. Die Anwesenheit des Publikums ist für uns genauso wichtig wie die der Darsteller: Wir versuchen, die traditionelle Distanz zwischen Zuschauer und Performer zu minimieren und ihnen so ein Aushandeln von gesellschaftlichen Strukturen zu ermöglichen. Es liegt also auch in der Verantwortung des Publikums, sich in die Werke einzubringen, wobei von aktiv bis beobachtend unterschiedliche Grade der Beteiligung möglich sind. Die Zuschauer beeinflussen also die Geschichte auf vielfältige und überraschende Art und Weise.
Ihre Arbeiten finden immer an speziellen Orten statt, etwa in leer stehenden Hotels, Fabrikhallen oder einer ehemaligen Kfz-Zulassungsstelle. In Mannheim bespielen Sie das Benjamin-Franklin-Village, einen ehemaligen US-Armee-Stützpunkt. Welchen Einfluss hat der jeweilige Ort auf die Performance?
Unsere Arbeit beginnt immer mit der Suche nach einem geeigneten Ort. Die Geschichte, die ästhetische Richtung und die Atmosphäre des späteren Werkes — all das scheint dem jeweiligen Gebäude von Anfang an eingeschrieben zu sein. Im zweiten Schritt geht es dann darum, die Ausgangsvision umzusetzen, sie weiterzuentwickeln, vor allem aber auch flexibel auf Zufälle und neue Ideen zu reagieren.
Doch in den bespielten Räumen überlassen Sie nichts dem Zufall …
Wir sind fanatisch, was Details angeht. Jedes Feuerzeug, jedes Taschentuch, jedes Objekt wird mit Blick auf die Gesamtillusion ausgewählt. Es braucht großen Aufwand und Genauigkeit, die Räume so auszustatten, als läge alles schon seit Jahren an eben diesem Platz. Aber natürlich bauen wir auch immer wieder Irritationsmomente ein.
Für Ihre Performances muss man Zeit mitbringen — das „Heuvolk“ wird sechs Stunden dauern. Was reizt Sie an Langzeit-Performances?
Erst wenn eine Performance mehrere Stunden oder Tage andauert, wird die Grenze zwischen Fiktion und Realität verhandelbar, sodass Fragen wie „Wer bin ich in diesem Moment, an diesem Ort? Was ist meine Rolle?“ ihre Relevanz verlieren. Außerdem entwickeln sich durch die extreme Dauer zwischen Zuschauern und fiktiven Charakteren intensive Beziehungen. Unsere Performances sind also eine sehr vielschichtige Erfahrung für alle Beteiligten. ‹
Das Heuvolk
16. bis 18. Juni und 20. bis 24. Juni 2017 (Schillertage) sowie 01. bis 16. Juli 2017, jeweils 18 Uhr (am 16. Juni um 18.30 Uhr): Bus-Shuttle ab Vorplatz Nationaltheater
Wichtig! Die Inszenierung dauert 6 Stunden, die Spielstätte ist nicht barrierefrei. Altersempfehlung: ab 16 Jahren.
Internationale Schillertage
Die Internationalen Schillertage sind ein alle zwei Jahre am Nationaltheater Mannheim stattfindendes Theaterfestival. Im Zentrum der Veranstaltung stehen Produktionen, die sich mit dem Werk Friedrich Schillers auseinandersetzen. Der Bezug des Nationaltheaters zu Schiller geht auf eine gemeinsame Zusammenarbeit zurück: Schiller war ab 1783 Mannheims erster Theaterdichter. Bereits im Vorjahr wurde sein Drama Die Räuber am Nationaltheater uraufgeführt. Die ersten Schillertage fanden 1978 statt. Künstlerischer Leiter der Schillertage war von 2006 bis 2017 Burkhard C. Kosminski, Intendant Schauspiel am Nationaltheater Mannheim. Die Schillertage stehen seit 2019 unter Leitung seines Nachfolgers Christian Holtzhauer.
TerminFR 16. bis SA 24. Juni 2017
AdresseNationaltheater Mannheim // Goetheplatz // 68161 Mannheim // Telefon: 0621 1680200 // Karten: 0621 1680150 // Fax: 0621 1680500 // E-Mail: schillertage@mannheim.de
Infoswww.schillertage.de