› Wer sich für Trends interessiert, muss auf die Straße schauen. Das ist bekannt. Dabei geht es keineswegs nur um die aktuelle Mode, sondern um Formen des Zusammenlebens, des Austauschs, des gesellschaftlichen Lebens schlechthin. So ist es kaum verwunderlich, dass die Straße Künstler*innen über Epochen hinweg fasziniert. Eine Ausstellung im Wilhelm-Hack-Museum widmet sich der Straße in der Kunst, beginnend mit Werken des 20. Jahrhunderts. „Im Zuge der Industrialisierung wachsen die Städte und damit rückt das urbane Leben mit ihm auch die Straße als Motiv verstärkt in den Fokus von Künstler*innen“, erklärt Kuratorin Astrid Ihle. „Von den Straßenszenen der Expressionisten über die Eroberung des urbanen Raums unter gesellschaftskritischen Vorzeichen im Kontext von Happening, Performance und Graffiti bis hin zu zeitgenössischen Praktiken, die die Straße als Lebensumfeld neu definieren.“ In sechs thematischen Kapiteln führt die Schau die kulturellen, sozialen, gesellschaftlichen und politischen Diskurse vor Augen, die sich in die künstlerische Auseinandersetzung mit der Straße einschreiben.
Anfang des 20. Jahrhunderts etabliert die Avantgarde die Straße als Ort, in dem sich die Befindlichkeit des modernen Menschen spiegelt: Für die Futuristen versinnbildlicht die Straße die Dynamik des modernen Lebens, während sie in den Bildern der Expressionisten gleichermaßen als Ort des Vergnügens und Verderbens erscheint. Die Surrealisten wiederum sehen die Sehnsüchte und verdrängten Obsessionen des Menschen im urbanen Straßenlabyrinth reflektiert.
In den 1920er- und 1930er-Jahren entdecken Fotograf*innen weltweit die Straße und ihre Akteur*innen als Motiv. Ihr Medium scheint prädestiniert dafür, das Stadtleben in seiner Dynamik, Beiläufigkeit und Momenthaftigkeit einzufangen. Die Ausstellung zeigt ausgewählte Beispiele der Straßenfotografie, mit einem Schwerpunkt auf dokumentarischen Positionen. Mit dabei ist etwa die amerikanische Fotografin Helen Levitt, die in ihren Aufnahmen den Alltag auf den Straßen Harlems in den 1930er- und 1940er-Jahren festhält oder der Schweizer Beat Streuli, dessen Fotografien von Menschen im Stadtraum den komplexen Alltag einer globalisierten Welt reflektieren. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird der öffentliche Raum zunehmend von Künstler*innen erobert. Häuser, Wände, Fassaden und auch Passant*innen werden zum Material. So erforschen die Affichisten in Paris unter poetischen wie auch medien- und konsumkritischen Vorzeichen die Straße, indem sie Plakate mit Werbebotschaften abreißen und collagieren. Die Situationisten wiederum erklären die Straße zum Spielfeld für künstlerische Interventionen und proklamieren das ziellose Sich-Treibenlassen als Gegenentwurf zur durchrationalisierten kapitalistischen Konsumgesellschaft. Im Kontext der Studenten-, Friedens- und Bürgerrechtsbewegung der 1960er- und 1970er-Jahre entwickeln Kunstschaffende weltweit politische Happenings und Performances. Ausgehend von New York entsteht Ende der 1960er-Jahre mit Graffiti eine urbane Zeichen- und Bildsprache. Heute hat sich Graffiti im Kontext von Street Art als Teil einer global vernetzten und zunehmend anerkannten Kunstform etabliert. Diese Entwicklung wird anhand von Fotografien, legendären Fotobüchern, Filmen und Musik in der Ausstellung gezeigt.
Raus aus den innerstädtischen Gefilden geht es mit dem Motiv der Landstraße, sie steht für Reise, Fernweh, Abenteuer und Freiheit. Jack Kerouacs 1957 erschienener Roman „On the Road“ begründet ein automobilaffines Genre, dessen narratives Potential sich in Fotografie, Film, Musik und Literatur widerspiegelt. Fotografische Reisetagebücher wie Robert Franks „The Americans“ (1958) oder Stephen Shores „Uncommon Places“ (1982) gelten als Ikonen des Genres. Pop Art und Konzeptkunst wiederum rücken das Zeichensystem der Straße mit ihren kulturellen Codes in den Fokus: Werbebanner, Verkehrsschilder und Tankstellen begründen eine neue Typologie der autoorientierten Stadt. Bereits in den 1970er-Jahren treten die energiepolitischen und wirtschaftlichen Konsequenzen eines einseitigen technologiegläubigen Fortschrittsdenkens zu Tage. Im Kontext von Konsum- und Globalisierungskritik entwickelt sich seit Mitte der 1990er-Jahre eine Gegenbewegung zur Privatisierung und Überwachung des öffentlichen Raums und der Vorherrschaft des Autoverkehrs. Zu deren bekanntesten Vorkämpfer*innen gehören die „Reclaim the Streets“-Aktivist*innen, die die Rückeroberung der Straße mit karnevalesken Straßenumzügen einfordern. „In den letzten Jahren hat es etwa mit der Regenschirm-Revolution in Hongkong, Black Lives Matter oder Fridays for Future ein starkes Wiederaufleben sozialer Bewegungen gegeben, was sich auch im Werk von Künstler*innen spiegelt. Auch das bilden wir in unserer Ausstellung ab“, kündigt Kuratorin Astrid Ihle an. Eines kann also bereits vorab konstatiert werden: Die Straße bleibt, allen Trends trotzend, was sie immer war: ein Ort des Wandels. ‹Street Life. Die Straße in der Kunst von Kirchner bis Streuli
Wilhelm-Hack-Museum, Ludwigshafen
12. November 2022 bis 5. März 2023
wilhelmhack.museum
Wilhelm-Hack-Museum, Ludwigshafen
12. November 2022 bis 5. März 2023
wilhelmhack.museum
Bildnachweis:
Mary Heilmann, No passing, 2011, Öl auf Leinwand, © Mary Heilmann, Foto: Thomas MüllerWilhelm-Hack-Museum
Wahrzeichen des Wilhelm-Hack-Museums ist seine Keramikfassade, die Joan Miró 1980 gestaltete. Heute gilt das Haus als das wichtigste Museum für die Kunst des 20. und 21.Jahrhunderts in Rheinland-Pfalz. Seine Schwerpunkte liegen auf der Klassischen Moderne, aber auch auf der konstruktiv-konkreten Kunst nach 1945. Profilierte Sonderausstellungen, Workshops und ein breit gefächertes Veranstaltungsprogramm machen das Museum zu einem kulturellen Zentrum von Ludwigshafen.
AdresseWilhelm-Hack-Museum // Berliner Straße 23 // 67059 Ludwigshafen // Telefon 0621 5043045 // E-Mail: hackmuseum@ludwigshafen.de
ÖffnungszeitenDienstag, Mittwoch & Freitag 11–18 Uhr // Donnerstag 11–20 Uhr // Samstag, Sonntag & Feiertage 10–18 Uhr