› An einen stolzen Kulturtempel erinnert das Nationaltheater zurzeit nur sehr bedingt. Das streng geometrische Gebäude, ein Kulturdenkmal aus den 1950er-Jahren, ist vollständig eingezäunt. Dahinter eine typische Baustellen-Choreografie: Bagger rollen auf und ab, irgendwo hämmert es und die Bohrer heulen auf wie Sirenen. Mindestens fünf Jahre soll die Generalsanierung dauern. Daher sind die meisten Sparten auf neue Bühnen umgezogen.Das Büro des Schauspielintendanten Christian Holtzhauer befindet sich immer noch in Baustellennähe. Was er hier mit seinem Team für die Schillertage geplant hat, wird jedoch zum Großteil in ganz anderen Stadtteilen präsentiert. Das Alte Kino Franklin etwa, die wichtigste Interimsbühne des Schauspiels und Festivalzentrum der Schillertage, residiert in einem ockerfarbenen Bau, dem ehemaligen Kino des früheren Benjamin-Franklin-Villages im Nordosten Mannheims. Dort entsteht zurzeit Schritt für Schritt ein neues Viertel, in dem heute bereits 6.000 und am Ende der Entwicklung 10.000 Menschen ihr Zuhause haben werden.
Mit dem zum Theater umgewandelten Kino haben sie eine erste kulturelle Anlaufstelle. Der leichte, luftige Saal erstreckt sich unter einem historischen Deckengewölbe aus Holz. „Der Spielort ist toll, aber die Bühne deutlich kleiner und auch technisch nicht in dem Maße ausgebaut wie das Nationaltheater“, beschreibt Holtzhauer die Bedingungen. Aufwendige Schiller-Produktionen können deshalb dort nicht gespielt werden. Dafür bekommen kleinere, experimentelle Formate eine Chance. Billiger Schampus und Dosenbier „Maria Stuart und Elisabeth“, eine Inszenierung von Antú Romero Nunes am Thalia Theater Hamburg (Foto oben), ist ein Beispiel dafür. Das Königinnen-Drama kommt ohne den englischen Hofstaat aus und lässt die beiden Protagonistinnen an einer Bushaltestelle aufeinanderstoßen. Sie stürzen billigen Schampus und Dosenbier herunter und werden zu ganz nahbaren Heldinnen. Das Setting hat zufällig auch einen realen Bezug zum neuen Standort, denn das Franklin-Kino liegt direkt an einer Haltestelle der Straßenbahnlinie 5, die den Spielort mit dem Nationaltheater am Goetheplatz verbindet. Ein schönes Bild, das die Programmgestalter*innen konzeptionell aufgegriffen haben: Entlang der Gleise haben sie eine ganze Reihe von Plätzen und Kulturhäusern erschlossen, um dort während der Schillertage Stücke und Projekte zu zeigen. So kann das Festival-Publikum zwischen dem Nationaltheater und dem „Platz der Freundschaft“ auf Franklin an einzelnen Stationen für ein Event oder eine Theateraufführung Halt machen. „Damit wollen wir die Aufmerksamkeit noch stärker auf Franklin lenken, als wir das mit dem regulären Programm ohnehin schon tun“, erläutert Holtzhauer die Idee.
Ein Beispiel: Wer sich an der Haltestelle Käfertal aus den Tram-Sitzen erhebt und aussteigt, erlebt im nahegelegenen Kulturhaus eine originelle „Johanna von Orléans“-Inszenierung. „Johanna (to go)“ ist ein mobiles Projekt des Schauspielhauses Düsseldorf. Die Geschichte einer Bauerntochter, die sich zur moralischen Autorität und Heldin aufschwingt, hat Regisseur Robert Lehniger so inszeniert, dass sie sich für Kultur- und Gemeindehäuser genauso wie für Kirchen, Gerichtssäle oder Justizvollzugsanstalten eignet. An vier Stationen entlang der Route werden darüber hinaus die Studierenden der Akademie für Darstellende Kunst Baden-Württemberg auf eine sogenannte nomadische Recherche gehen, um herauszufinden, wie zeitgemäß Lyrik heute noch ist. Wie könnte eine bessere Welt aussehen?„Schöne Welt, wo bist du?“ Wie in den Jahren zuvor sind auch diese Schillertage mit einem Satz oder einem zentralen Gedanken aus Schillers Werk überschrieben. Die aktuelle Sentenz ist ein Vers aus Schillers Gedicht „Die Götter Griechenlands“. Während Schiller darin den Verlust von Werten beklagt, verstehen die Festival-Kurator*innen das Motto als Auftrag, gemeinsam Utopien zu entwickeln. Wie könnte eine schönere und bessere Welt aussehen? „Die Produktionen, die wir eingeladen haben, können diese Frage nicht beantworten, aber Beispiele und Hinweise geben, wo das Schöne zu finden ist oder warum es manchmal nicht zu finden ist“, erklärt Holtzhauer. Wilhelm Tell auf der SeebühneEinen Schwerpunkt bildet dabei Schillers Drama „Wilhelm Tell“, das mit seinem Freiheitsgedanken und dem Kampf gegen eine willkürliche Obrigkeit wie für die Gegenwart geschrieben zu sein scheint. Das Stück ist gleich in zwei Koproduktionen des Nationaltheaters zu sehen. Die eine ist ein opulentes Werk mit Musik in der Regie von Christian Weise. Der Beitrag der Schillertage zu der gleichzeitig in Mannheim stattfindenden Bundesgartenschau wird auf der Seebühne im Luisenpark gezeigt — eine Kulisse, die an den Vierwaldstättersee erinnern soll, wo bei Schiller die tapferen Eidgenossen gegen die Gewaltherrschaft der Habsburger aufbegehrten. Bei der zweiten Koproduktion handelt es sich um eine kleine, intensive Studioarbeit des ukrainischen Regisseurs Stas Zhyrkov mit dem Titel „Tell. Eine ukrainische Geschichte“. Wohl kaum ein anderes Stück kann so direkt auf die derzeitige Situation in dessen Heimat bezogen werden. Bei ihrer Suche nach Schönheit haben die Kurator*innen stets über den eigenen Tellerrand geblickt. Sowohl geografisch mit internationalen Gastspielen als auch disziplinär wie zum Beispiel mit einer SWR-Diskussionsreihe zum Thema „Schöne Welt, wo bist du?“ oder der Zirkus-Truppe „Groupe Acrobatique de Tanger“, die 15 Künstler*innen unterschiedlicher Herkunft und verschiedener Disziplinen vereint. Die Welt mag gerade nicht schön sein, die Schillertage aber werden dennoch oder gerade deswegen wieder sehr spannend. ‹
22. Internationale Schillertage
22. Juni bis 02. Juli 2023
Altes Kino Franklin, Studio Werkhaus, Seebühne Luisenpark und ander eSpielorte
www.schillertage.de
22. Internationale Schillertage
22. Juni bis 02. Juli 2023
Altes Kino Franklin, Studio Werkhaus, Seebühne Luisenpark und ander eSpielorte
www.schillertage.de
Bildnachweis:
Armin Smailovic (Maria Stuart)Internationale Schillertage
Die Internationalen Schillertage sind ein alle zwei Jahre am Nationaltheater Mannheim stattfindendes Theaterfestival. Im Zentrum der Veranstaltung stehen Produktionen, die sich mit dem Werk Friedrich Schillers auseinandersetzen. Der Bezug des Nationaltheaters zu Schiller geht auf eine gemeinsame Zusammenarbeit zurück: Schiller war ab 1783 Mannheims erster Theaterdichter. Bereits im Vorjahr wurde sein Drama Die Räuber am Nationaltheater uraufgeführt. Die ersten Schillertage fanden 1978 statt. Künstlerischer Leiter der Schillertage war von 2006 bis 2017 Burkhard C. Kosminski, Intendant Schauspiel am Nationaltheater Mannheim. Die Schillertage stehen seit 2019 unter Leitung seines Nachfolgers Christian Holtzhauer.
TerminDO 22. Juni bis SO 02. Juli 2023
AdresseNationaltheater Mannheim // Goetheplatz // 68161 Mannheim // Telefon: 0621 1680200 // Karten: 0621 1680150 // Fax: 0621 1680500 // E-Mail: schillertage@mannheim.de
Infoswww.schillertage.de