› Was macht eigentlich Musik mit uns? Dieser Frage gehen nicht nur Wissenschaftler*innen nach, sondern natürlich auch Musiker*innen selbst. Esperanza Spalding veröffentlichte vor drei Jahren das Album „Songwrights Apothecary Lab“, für das sie nicht nur musikalische Mitstreiter*innen aus verschiedenen Weltgegenden um sich versammelt hat, sondern auch einen Expertenrat, bestehend aus Neurowissenschaftler*innen, Psycholog*innen und Musiktherapeut*innen. Es ging bei dem Album nämlich um nicht weniger und nicht mehr als das, was Albert Ayler der Musik per se zugeschrieben hat — „the healing force of the universe“. Welche Klänge erzeugen welche Gefühle, wie lassen sich Krisen durch bestimmte Sounds bewältigen, Stimmungen durch Melodielinien und bestimmte Wörter beeinflussen? „Musik ermächtigt zur Heilung“Was Spalding hier sehr bewusst und geradezu experimentell angeht, lässt sich für viele musikalische Formen sagen: Sie tragen zum Seelenheil bei, können positive Energien und Kräfte freisetzen und, ja, tatsächlich Heilungsprozesse in Gang bringen. Das hat selbstverständlich nichts mit Esoterik zu tun und ist auch keine Geheimwissenschaft oder Globuli-Hokuspokus. Vielmehr dürften alle, die ernsthaft Musik hören oder machen, um diese Wirkung wissen. Deshalb nimmt sich Enjoy Jazz in diesem Jahr des Themas „Healing“ an — und schreibt den Begriff als inspirierendes, wenn auch nicht alles umfassendes Motto über vier prall gefüllte Festivalwochen. „Die Musik selbst heilt nicht“, sagte Festivalleiter Rainer Kern kürzlich in einem Interview. „Sie tut viel mehr. Sie ermächtigt zur Heilung. Und das auf vielfältige Weise und in unterschiedlichen sozialen Kontexten.“
Sofort fallen einem da Künstler*innen ein, die nicht nur in der Praxis der Musik, sondern auch in anderen Lebensbereichen den Ayler’schen Gedanken der „healing force of the universe“ aufgreifen. Zuallererst natürlich der südafrikanische Komponist, Pianist und Heiler Nduduzo Makhathini, der in diesem Jahr als „Artist in Residence“ Anfang Oktober gleich mehrfach zu hören sein wird: beim Eröffnungskonzert am 02. Oktober mit Vijay Iyer, im Trio (05.10.) und solo (06.10.) in einem zusammen mit der Carnegie Hall und dem Weill Music Institute in New York entwickelten „Well-Being Concert“. Makhathinis ins Spirituelle ausgreifende, tänzerisch anmutende, die Geschichte südafrikanischer Musiken und afroamerikanischer Traditionen aufrufende Improvisationen transportieren eine spielerische Leichtigkeit und zugleich eine in jeder Note spürbare Dringlichkeit.Stimmen aus aller WeltDas gilt ebenso für Naïssam Jalal, deren jüngstes Album den Titel „Healing Rituals“ trägt. Die in Paris geborene Flötistin, Sängerin und Nay-Spielerin ist syrischer Herkunft und ihre zwischen verschiedenen musikalischen Welten oszillierenden Improvisationen erzeugen eine trancehafte, betörende, ja, heilsame Wirkung (03.10.). Der Pianist Vijay Iyer wurde schon erwähnt: Er spielt nicht nur mit Nduduzo Makhathini vierhändig bei der Eröffnung von Enjoy Jazz, sondern auch mit seinem fantastischen Trio mit Linda May Han Oh am Bass und Jeremy Dutton am Schlagzeug (07.10.). Iyer hat übrigens zusammen mit Shahzad Ismaily und Arooj Aftab eines der eindrucksvollsten Alben des letzten Jahres veröffentlicht. „Love in Exile“ sei der Klang eines Trios, das in sanfter Harmonie spiele, schrieb der Guardian. „Aftabs hallige Stimme ertönt in der Leere, ein einsames Leuchtfeuer, das nach jemandem sucht, mit dem es diese Weite teilen kann — einem Geliebten, dem Göttlichen —, aber keine Antwort erhält“, schwärmte Pitchfork. Arooj Aftab, aus Pakistan stammend, vornehmlich in Urdu singend, hat gerade ihr neues Album „Night Reign“ veröffentlicht, das sie bei Enjoy Jazz vorstellt (21.10.). Es wird getragen von dieser soghaft-melancholischen Stimme, aber auch eine neu gewonnene Freude hat sich darin niedergeschlagen, wie sie der New York Times erzählte.Freude — das ist das richtige Wort für das, was Ghost Note mit ihrer Musik bewirken: Nichts weniger als die Zukunft des Funk aus dem Geist von Afrobeat, Psychedelic und Neo-Soul wollen die beiden Drummer von Snarky Puppy, Robert Searight und Nate Werth, auf die Bühne bringen (14.10.). Funkjazz ist auch ein Erbe, auf das Alfa Mist Bezug nimmt. Der Pianist bewegt sich geschmeidig zwischen den Genres, groovig, spielerisch und wenig verkopft — ein Well-Being-Abend auf jeden Fall (17.10.).
Brad Mehldau wiederum ist ein Pianist, der die letzten 30 Jahre mitgeprägt hat. Seine Aufnahmen aus den 1990ern läuteten eine Renaissance des klassischen Klavier-Trios ein. Seit Ewigkeiten ist er Enjoy Jazz verbunden, und so ist es nur selbstverständlich, dass er mit seiner neuen Band — dem altgedienten Schlagzeuger Jorge Rossy und dem jungen dänischen Bassisten Felix Moseholm — in Ludwigshafen vorbeischaut (15.10.). Für Mehldau gibt es im Jazz keine Grenzen — weder was die Auswahl seines Materials noch was die Möglichkeiten seines Instruments angeht. „Weil es keine Grenzen im Jazz gibt“ — das hat Youn Sun Nah einmal auf die Frage geantwortet, warum sie ihre Musical-Karriere aufgegeben hat und von Seoul nach Paris gezogen ist. Eine ziemlich gute Entscheidung. Sie kann sich so die Freiheit nehmen, Songs auf vielschichtige Weise zu interpretieren — und damit weit über die Vorgaben und Zwänge einer Musical-Performance hinausgehen. Youn Sun Nah ist diesmal in intimer Atmosphäre mit dem Pianisten Éric Legnini zu erleben (23.10.).„The Gospel of James Baldwin“Eine mindestens so vielseitige, ausdrucksstarke und auratische Sängerin ist im Quartettformat zu Gast: Cécile McLorin Salvant kann swingen und Balladen zelebrieren, sie singt auf Englisch und Französisch und ihre karibischen Wurzeln sind ebenfalls immer wieder zu spüren (25.10.). Superlative sind bei dieser Musikerin durchaus erlaubt. Und sie sind es auch bei einem der ganz großen Saxophonisten seiner Generation: David Murray mischte bereits Mitte der 1970er als junger Avantgardist die New Yorker Szene auf und hat seither mit jedem gespielt, der Rang und Namen hat. Mit seinem neuen Quartett, in dem unter anderem die hochtalentierte Pianistin Marta Sánchez zu erleben ist, kommt er nach Ludwigshafen (31.10.). Und wenn wir schon bei Gipfelstürmer*innen sind: Meshell Ndegeocello (01.11.) gehört auf jeden Fall dazu. Gefeierte Bassistin, Songschreiberin, Sängerin, irgendwo zwischen Jazz, avanciertem Pop und Hip-Hop zu Hause. Ihr jüngstes Album „No More Water: The Gospel of James Baldwin“ widmet sich einem Schriftsteller, der in diesem Jahr 100 geworden wäre und vielleicht heute noch wirkmächtiger ist für Schwarze Bürgerrechtsbewegungen als zu seinen Lebzeiten. James Baldwin sagte einmal in einem Gespräch mit Studs Terkel: „Kunst muss eine Art Bekenntnis sein. Worum es dabei geht, scheint mir, ist dies: Wenn es dir gelingt, dein eigenes Leben zu ergründen und dich ihm zu stellen, entdeckst du die Aspekte, die du mit anderen teilst, und auch sie können dann die Aspekte entdecken, die sie mit anderen teilen.“ Noch so ein heilsamer Satz, der über Enjoy Jazz 2024 stehen könnte. ‹
Enjoy Jazz Festival
02. Oktober bis 02. November 2024
verschiedene Locations in der Kulturregion
www.enjoyjazz.de
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02. Oktober bis 02. November 2024
verschiedene Locations in der Kulturregion
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Bildnachweis:
Simone AddariEnjoy Jazz Festival
Seit seiner Premiere 1999 hat sich Enjoy Jazz zu einem international renommierten Festival und zum größten Jazzfestival Deutschlands entwickelt. Neben Legenden wie Ornette Coleman oder Wayne Shorter präsentiert das „Internationale Festival für Jazz und anderes“ immer auch die Größen der jüngeren Jazzgeneration und spannt den Bogen zu angrenzenden Genres wie Weltmusik, Elektronik, Hip-Hop und Klassik. Komplettiert werden die rund 70 Konzerte durch Workshops, Matineen, Partys und Vorträge.
TerminMI 02. Oktober bis SA 02. November 2024
AdresseEnjoy Jazz GmbH // Bergheimer Straße 153 // 69115 Heidelberg // Tel: 06221 5835850 // E-Mail: info@enjoyjazz.de
SpielorteVerschiedene Orte in und rund um Heidelberg, Mannheim und Ludwigshafen
Infoswww.enjoyjazz.de