› Im Jahr 2013 steht ein Lkw mit Kies schon bereit. Damit soll ein barocker Brunnen auf dem Gelände des UNESCO-Welterbes Kloster Lorsch zugeschüttet werden. Doch zuvor will Bauforscherin Dr. Katarina Papajanni, heute Baudenkmalpflegerin bei den Staatlichen Schlössern und Gärten Hessen, den Schacht genauer untersuchen. Mit Unterstützung der örtlichen Feuerwehr wird Luft in die 1,20 Meter breite und zehn Meter tiefe Röhre gepumpt und die Wissenschaftlerin an einem Seil nach unten gelassen. Dabei entdeckt sie spektakuläre mittelalterliche Spuren und mit ihnen neue Erkenntnisse zur Geschichte des Klosters.Kostbare Architektur- und Skulptur-FragmenteDie Schätze, die aus dem Brunnenschacht zutage gefördert werden, sind Überreste der prächtigen, im Dreißigjährigen Krieg zerstörten Nazarius-Basilika. Sie wurden im 18. Jahrhundert als Baumaterial für die Brunnenwandung gewissermaßen recycelt. Die kostbaren Architektur- und Skulptur-Fragmente aus dem 12. und 13. Jahrhundert präsentiert nun die multimediale Ausstellung „Geschichte schöpfen — Quellen aus einem Brunnen“. Sie wurde 2021 — passend zum 30-jährigen UNESCO-Welterbe-Jubiläum des Klosters — eröffnet und ist seit Ende der Winterpause wieder zu sehen. Eine SensationsentdeckungDie Highlights der Ausstellung in der Zehntscheune, dem Schaudepot des Welterbe-Areals, bilden zwei Skulpturen, die größtenteils wieder zusammengesetzt werden konnten. Rätsel gab zunächst die Figur eines Diakons auf. Einzelne Bruchstücke schienen in keinem Zusammenhang zu stehen, auch wenn sie nachweislich aus demselben Sandstein stammen. Ein Löwe am Fuß der Figur konnte schließlich um ein weiteres Tier, einen Paarhufer, ergänzt werden. Als zudem ein gefiedertes Wesen in den Händen des Diakons identifiziert wurde, war klar, dass dieser einen sogenannten Tetramorph darstellt, also eine Verbindung der vier Evangelistensymbole Mensch, Adler, Stier und Löwe. Diese Kombination trat in der Kunst- und Architekturgeschichte in verschiedenen Formen auf, der in Lorsch geborgene Diakon ist jedoch in seiner Gestalt einzigartig. Kuratorin Papajanni hofft, ihn um weitere Puzzleteile ergänzen zu können.
Bei der zweiten Sensationsentdeckung handelt es sich um einen sogenannten Atzmann. Die lebensgroße Steinfigur im liturgischen Gewand diente im Mittelalter als Pult für die Antiphonarienbücher. Sie enthielten die Stundengebete und hatten daher eine große Bedeutung für die klösterliche Liturgie. Zusammen mit dem neuen Fund gibt es nun 20 Atzmänner, die erhalten geblieben sind. Alle haben einen Bezug zum Mainzer Erzstift. Die fein gearbeitete Lorscher Figur wird um 1260 datiert und zählt damit zu den ältesten. Digitale Modelle und interaktive StationenEine weitere Besonderheit der Ausstellung: Sie ermöglicht den Vergleich mit anderen Ausgrabungen, indem einige von ihnen als digitale Modelle visualisiert wurden. Auf diese Weise können die Besucher*innen die fehlenden Teile des Lorscher Atzmanns gedanklich ergänzen. Sie wurden zum Schutz der Substanz bewusst nicht rekonstruiert. Darüber hinaus gibt die Schau aufschlussreiche Informationen zu Formen des katholischen Gottesdienstes, kirchlichen Gewändern und vor allem zur Baukunst des Mittelalters. Diese sind für alle Altersgruppen, auch ohne Vorkenntnisse, anschaulich und teilweise interaktiv aufbereitet. Die von der Frankfurter Ausstellungsplanerin Sabine Gutjahr konzipierte Szenografie erinnert daran, dass die zerschlagenen Statuen dazu verwendet wurden, um Brunnenwände auszukleiden. Schauwände sind ringförmig angeordnet, sodass die Besucher*innen den Eindruck haben, das Innere eines Brunnens zu erkunden. Zudem stellt die Schau auch Bezüge zu älteren Funden her, die im Schaudepot Zehntscheune präsentiert werden. Anekdoten aus dem BrunnenschachtMit den Schätzen aus romanischer und gotischer Zeit wurden außerdem ganz neue Erkenntnisse über die Geschichte und Bedeutung des Lorscher Klosters an die Oberfläche gebracht. Verortete man die Blütezeit des 764 gegründeten und bis 1556 bestehenden Klosters bisher in die karolingische Zeit, weiß man nun, dass die künstlerische und bauliche Hochphase bis weit darüber hinaus reichte. Neben bedeutsamen Relikten mit Seltenheitswert wie den reich verzierten romanischen Chorschrankenelementen bietet die Ausstellung auch kleine Anekdoten aus dem Brunnenschacht, wie die der Glanzschnecke, die bis heute dort beheimatet ist. Mit ihrer charakteristischen blauen Färbung fand sie bereits im Mittelalter Eingang in die Buchkunst. Auf dem Kloster-Areal befinden sich übrigens noch zwei weitere Brunnen. Gut möglich, dass sich Katarina Papajanni auch in diese Schächte wieder herunterlassen lässt und einen Blick riskiert. ‹
Geschichte schöpfen — Quellen aus einem Brunnen
bis 30. Oktober 2022, Di bis So 10–17 Uhr
UNESCO-Weltkulturerbe Kloster Lorsch
www.kloster-lorsch.de
Geschichte schöpfen — Quellen aus einem Brunnen
bis 30. Oktober 2022, Di bis So 10–17 Uhr
UNESCO-Weltkulturerbe Kloster Lorsch
www.kloster-lorsch.de
Bildnachweis:
Thomas NeuStaatliche Schlösser und Gärten Hessen
Das UNESCO-Weltkulturerbe Kloster Lorsch ist das bedeutendste Bauwerk, das die Hessische Schlösserverwaltung in der Metropolregion Rhein-Neckar betreut. Sein Freilichtlabor Lauresham zieht wie auch der romantische Staatspark Fürstenlager in Bensheim-Auerbach Jung und Alt an. Außerdem gehören auch die Burgen Auerbacher Schloss und Hirschhorn zum Einzugsgebiet der Hessen sowie das Erbacher Schloss mit den gräflichen Sammlungen und dem Deutschen Elfenbeinmuseum. Ein weiteres Kleinod ist die Einhardsbasilika in Michelstadt-Steinbach, eines der letzten Beispiele authentisch erhaltener karolingischer Architektur.
AdresseStaatliche Schlösser und Gärten Hessen // Schloss // 61348 Bad Homburg v.d.Höhe // Telefon: 06172 9262-0 // E-Mail: info@schloesser.hessen.de
Infosschloesser-hessen.de