Heidelberger Stückemarkt

Blaupause fürs Leben

› Die Farbe Blau ist für die Protagonistin warm und bedeutungsvoll. So wie das Blau auf der Delfinflosse ihres Schlüsselanhängers verblasst ist, so hat sie auch ihre erste Liebe verloren. Eine tödliche Krankheit, eine Cortison-Therapie, ein letzter Besuch im Europapark und dann geht alles ganz schnell. Leonie Lorena Wyss hat mit „Blaupause“ eine Coming-of-Age-Geschichte geschrieben, die tragisch endet. „Es spielt in einer Gesellschaft, in der Queerness im Mainstream noch immer etwas Besonderes, Anderes ist“, sagt Dramaturgin Maria Schneider. Der poetische Erinnerungsstrom, der mit dem Autor*innenpreis ausgezeichnet wurde, mündet immer wieder in skurrile Familientreffen mit einem pubertierenden 13-köpfigen Cousinen-Chor, mit Tanten und Onkeln.

Wabbelarme und kurze Beine

Der Text wechselt zwischen dem Abschiednehmen von der Geliebten und grotesken Alltagsszenen mit Freundinnengesprächen über Wabbelarme und von der Oma geerbte kurze Beine. Irgendwann macht die Ich-Erzählerin einen Multiple-Choice-Test zur Frage „Bin ich lesbisch?“. „Das Stück ist humoristisch, temporeich und dynamisch und lässt ganz viel Spielraum bei der Umsetzung“, schwärmt Dramaturgin Schneider.

In ihrer Heidelberger Inszenierung teilt Regisseurin Hannah Frauenrath die Dialoge und Monologe auf vier Schauspielerinnen im Spielalter zwischen Anfang zwanzig und Mitte vierzig auf. „Die Paare bevölkern den Erinnerungsraum und übernehmen dabei alle Rollen“, erläutert Schneider das Konzept. Dazu läuft eine von der Autorin zusammengestellte Playlist aus den Nuller- und Zehnerjahren — von „Boom Boom Pow“ der Hip-Hop-Gruppe Black Eyed Peas bis hin zu „Gallowdance“ der Dark-Wave-Band Lebanon Hanover.
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    Ausgezeichnet – Leonie Lorena Wyss (Zweite von links) gewann für ihr Stück „Blaupause“ beim letztjährigen Stückemarkt den Autor­*innenpreis. In diesem Jahr wird das Stück in der Inszenierung von Hannah Frauenrath zu sehen sein. (Foto: Susanne Reichardt)
Mit ihrem Erstlingswerk ist die 1997 in Basel geborene Leonie Lorena Wyss richtig durchgestartet. Ein Workshop mit der israelischen, heute in Berlin lebenden Dramatikerin Sivan Ben Yishai war für sie die Initialzündung. „Yishai hatte den Teilnehmenden die Aufgabe gestellt, aus dem eigenen Körper heraus zu schreiben“, berichtet Dramaturgin Schneider von Gesprächen mit Wyss und fügt hinzu: „Das Ich in ‚Blaupause‘ ist nicht Leonie, aber es ist ihre Auseinandersetzung mit Autofiktion, die ihr Schreiben auf ein anderes Level gebracht hat.“ Die Erfolgskurve der Theaterautorin geht steil nach oben. Vor Kurzem erhielt sie den Retzhofer Dramapreis für ihr neues Stück „Wie von Mutterhand“.

Ausgeklügelter Auswahlprozess

Ansonsten wurden auch beim diesjährigen Stückemarkt wieder zahlreiche Manuskripte für den Wettbewerb eingereicht, insgesamt 99 noch nicht uraufgeführte Stücke. Die Auswahl der sechs Stücke, die beim Festival schließlich in szenischen Lesungen präsentiert werden, trifft ein zehnköpfiges Expert*innenteam, dem auch Maria Schneider angehört, im Rahmen eines mehrstufigen Prozesses. Immer zwei Personen aus dieser Gruppe lesen zunächst den gleichen Text. Gefällt er beiden, schafft er es in die zweite Runde; finden ihn beide nicht gelungen, scheidet er aus; ist sich das Duo uneinig, liest ihn eine dritte Person. Nach der Lektüre kommt das Gremium zu mehreren vierstündigen Sitzungen zusammen, in denen dann die finale Auswahl getroffen wird. „Das sind die besten Besprechungen im ganzen Jahr“, erzählt Schneider. Die Themen der teilnehmenden Autor*innen spiegeln aktuelle Entwicklungen und Trends wider. In der Auswahl dominieren politische Themen wie die Auseinandersetzung mit dem Rechtsruck und dessen Auswirkungen auf migrantisierte, marginalisierte Menschen, die Beschäftigung mit einschneidenden Erfahrungen von Verlust, aber auch radikale Formexperimente. Wie Wyss’ feministische Erzählung sind sie eine Blaupause für das Leben.

Who’s who der Gegenwartsdramatik

Von den sechs ausgewählten Stücken wird eines am Ende des Stückemarkts mit dem renommierten Autor*innenpreis ausgezeichnet, der als Herzstück des Festivals gilt. Neben ihm werden vier weitere Auszeichnungen verliehen: der Internationale Autor*innenpreis, der JugendStückePreis, der NachSpielPreis und der Publikumspreis. Sie sorgen für Aufmerksamkeit und sind für die Gewinner*innen ein Türöffner. Das zeigt die Preisträgerliste des Autor*innenpreises, die sich wie ein Who’s who der deutschsprachigen Gegenwartsdramatik liest. Bekannte Preisträger*innen sind zum Beispiel Nino Haratischwili, Philipp Löhle, Albert Ostermaier oder Maria Milisavljević. Aber auch diejenigen, die es „nur“ auf die Shortlist schaffen, berichten, dass plötzlich Verlage bei ihnen anrufen. Doch eines ist noch wichtiger. „Will man Autoren fördern, gibt es nur eins. Man muss sie spielen, spielen, spielen“, sagte der Heidelberger Intendant Holger Schultze. Sein Haus geht mit gutem Beispiel voran und inszeniert mit „Blaupause“ das Siegerstück von 2023. ‹


Heidelberger Stückemarkt
26. April bis 05. Mai 2024
Theater und Orchester Heidelberg
www.theaterheidelberg.de
Bildnachweis:
Florian Thoss

Heidelberger Stückemarkt

Neben spannenden Produktionen aus einem Gastland Litauen bietet der Heidelberger Stückemarkt aktuelle Inszenierungen aus dem gesamten deutschsprachigen Raum. Eine große Bandbreite an künstlerischen Handschriften, die das zeitgenössische Theater prägen. Neue, noch nicht aufgeführte Theaterstücke, gelesen von Schauspielern des Theaters Heidelberg. Theaterautoren von morgen im Wettbewerb um den Autorenpreis. Künstlergespräche, Publikumsdiskussionen und Partys.
TerminFR 26. April bis SO 05. Mai 2024
AdresseTheater und Orchester Heidelberg // Theaterstraße 10 // 69117 Heidelberg
SpielorteTheater und Orchester Heidelberg
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