› Die Kunst stapelt sich fast bis an die Stuckdecke. Selbst auf den Unterschrank des Waschbeckens ist ein lustiges blaues Gesicht skizziert. Angelika Dirscherl sitzt in der Malstube am großen Tisch, dort, wo sonst ihre Schüler*innen töpfern, den Pinsel schwingen oder Papier schöpfen, und lässt die letzten drei Jahrzehnte Revue passieren. Eine Zeit, in der sie nicht nur diese kreative Werkstatt und die Museumspädagogik des Kurpfälzischen Museums leitete, sondern auch als freie Künstlerin aktiv war.„Der Direktor sagt, ich bin wie ein Hybridmotor, den man umschalten kann“, erzählt sie und lacht. Ganz so technisch sieht die gebürtige Mannheimerin, die in Stuttgart aufgewachsen ist, ihre Biografie natürlich nicht. „Ich liebe beide Berufe“, betont sie und blickt zum Fenster. Dort hängen riesige Kugeln aus bunten Kunststoffbändern. Teilnehmende der vielen Kurse, die Dirscherl in diesem charmanten Barock-Ambiente abhält, haben sie aus Plastiktüten gebastelt. Diese beiden Arbeiten führen direkt zur eigenen Kunst der Malstubenleiterin.
Postkarten und Plakatstreifen
Denn auch die 65-Jährige überführt in ihren Werken Flächiges in Räumliches. Dabei verwendet sie Papier nicht als Medium, sondern als Material. Alte Postkarten näht sie zum Beispiel zu Häuschen zusammen und lässt sie von der Decke baumeln. Plakatstreifen faltet, wickelt und flicht sie so lange, bis eine kompakte weiße Kugel entstanden ist. Die Leidenschaft für die haptischen Qualitäten von Papier entwickelt Angelika Dirscherl schon als Kind. „Ich habe damals immer gezeichnet, gekritzelt und Collagen geklebt“, erinnert sie sich. Später lernt sie Papier schöpfen. Und als sie in Frankfurt Kunstgeschichte, Kunsterziehung und Germanistik studiert, macht sie nebenbei ein Praktikum bei einem Buchbinder. „Ich wollte auch wissen, wie Bücher gemacht sind“, erklärt sie ihre Motivation. Der Abfall der Welt ist das, woraus ich schöpfeDie Papiere, die Dirscherl in Objekte und Collagen verwandelt, sind meist Zufallsfunde. Als sie sieht, wie eine Plakatsäule abgeschabt wird, transportiert sie die papiernen Überreste spontan in ihr Atelier in einem Heidelberger Hinterhof. Ein Stück Karton, das ihr auf einem Fahrradweg in die Quere kommt, verarbeitet sie zu einer Collage. Auch ihre Kolleg*innen im Museum versorgten die Künstlerin immer wieder mit ausrangierten Papieren und Kartons — all das frei nach dem Motto des Dadaisten Kurt Schwitters: Der Abfall der Welt ist das, woraus ich schöpfe. Aufbewahren, Archivieren und ZusammenbringenDirscherl nutzt alles, was ihr in die Hände fällt: bedrucktes genauso wie blankes Papier, glattes wie knittriges, dickes wie hauchdünnes. Besonders wertvoll sind für die Meisterin der Wiederverwertung Geschenke wie das einer Frau, die ihr 500 Schwarz-Weiß-Postkarten aus dem privaten Fundus übertrug. Ihre Arbeit definiert die vielseitig begabte Künstlerin als Aufbewahren, Archivieren und Zusammenbringen von Passendem. Teilweise beschreibt sie die Papiere auch mit eigenen oder fremden Texten. Sie nennt sie „Handtellermemoires“. Als Friederike Mayröcker im Juni 2021 mit 96 Jahren stirbt, fertigt Dirscherl zu ihrer Lieblingsschriftstellerin 96 Schreibarbeiten in Postkartengröße an. Sie werden in der Ausstellung „Echt jetzt?“ zu sehen sein. Klar ist: In der digitalisierten Welt wird Dirscherls Rohstoff immer rarer. Das macht ihre Kunst umso wertvoller. Alte Fahrscheine der Pariser Metro — inzwischen durch Plastiktickets ersetzt — bewahrt sie wie Schätze auf. Gleiches gilt für die aus der Mode geratenen Papierbanderolen um die Mineralwasserflaschen. „Und auch in der Museumswerkstatt arbeiten wir nach wie vor mit realen Werkstoffen“, betont Angelika Dirscherl. „Ich möchte, dass dieser Ort eine computerfreie Zone bleibt.“ ‹Echt jetzt?
23. März bis 03. Juli 2022
Kurpfälzisches Museum, Heidelberg
www.museum.heidelberg.de
Denn auch die 65-Jährige überführt in ihren Werken Flächiges in Räumliches. Dabei verwendet sie Papier nicht als Medium, sondern als Material. Alte Postkarten näht sie zum Beispiel zu Häuschen zusammen und lässt sie von der Decke baumeln. Plakatstreifen faltet, wickelt und flicht sie so lange, bis eine kompakte weiße Kugel entstanden ist. Die Leidenschaft für die haptischen Qualitäten von Papier entwickelt Angelika Dirscherl schon als Kind. „Ich habe damals immer gezeichnet, gekritzelt und Collagen geklebt“, erinnert sie sich. Später lernt sie Papier schöpfen. Und als sie in Frankfurt Kunstgeschichte, Kunsterziehung und Germanistik studiert, macht sie nebenbei ein Praktikum bei einem Buchbinder. „Ich wollte auch wissen, wie Bücher gemacht sind“, erklärt sie ihre Motivation. Der Abfall der Welt ist das, woraus ich schöpfeDie Papiere, die Dirscherl in Objekte und Collagen verwandelt, sind meist Zufallsfunde. Als sie sieht, wie eine Plakatsäule abgeschabt wird, transportiert sie die papiernen Überreste spontan in ihr Atelier in einem Heidelberger Hinterhof. Ein Stück Karton, das ihr auf einem Fahrradweg in die Quere kommt, verarbeitet sie zu einer Collage. Auch ihre Kolleg*innen im Museum versorgten die Künstlerin immer wieder mit ausrangierten Papieren und Kartons — all das frei nach dem Motto des Dadaisten Kurt Schwitters: Der Abfall der Welt ist das, woraus ich schöpfe. Aufbewahren, Archivieren und ZusammenbringenDirscherl nutzt alles, was ihr in die Hände fällt: bedrucktes genauso wie blankes Papier, glattes wie knittriges, dickes wie hauchdünnes. Besonders wertvoll sind für die Meisterin der Wiederverwertung Geschenke wie das einer Frau, die ihr 500 Schwarz-Weiß-Postkarten aus dem privaten Fundus übertrug. Ihre Arbeit definiert die vielseitig begabte Künstlerin als Aufbewahren, Archivieren und Zusammenbringen von Passendem. Teilweise beschreibt sie die Papiere auch mit eigenen oder fremden Texten. Sie nennt sie „Handtellermemoires“. Als Friederike Mayröcker im Juni 2021 mit 96 Jahren stirbt, fertigt Dirscherl zu ihrer Lieblingsschriftstellerin 96 Schreibarbeiten in Postkartengröße an. Sie werden in der Ausstellung „Echt jetzt?“ zu sehen sein. Klar ist: In der digitalisierten Welt wird Dirscherls Rohstoff immer rarer. Das macht ihre Kunst umso wertvoller. Alte Fahrscheine der Pariser Metro — inzwischen durch Plastiktickets ersetzt — bewahrt sie wie Schätze auf. Gleiches gilt für die aus der Mode geratenen Papierbanderolen um die Mineralwasserflaschen. „Und auch in der Museumswerkstatt arbeiten wir nach wie vor mit realen Werkstoffen“, betont Angelika Dirscherl. „Ich möchte, dass dieser Ort eine computerfreie Zone bleibt.“ ‹Echt jetzt?
23. März bis 03. Juli 2022
Kurpfälzisches Museum, Heidelberg
www.museum.heidelberg.de
Bildnachweis:
privat (Dirscherl); Knut Gattner (Wabe)Kurpfälzisches Museum
Kunst und Kultur in der Heidelberger Altstadt bietet das Kurpfälzische Museum. Mit seinen vielfältigen Beständen und deren Schwerpunkten Archäologie, Gemälde und Grafiik, Kunsthandwerk und Stadtgeschichte lädt es zu einer faszinierenden Entdeckungsreise ein, von den ersten Siedlungsspuren im Rhein-Neckar-Raum bis zu Werken der Klassischen Moderne von Beckmann, Slevogt und Corinth. Die kostbaren Bestände des Kunsthandwerks — Silber, Porzellan und Möbel — können im historischen Palais Morass bewundert werden, der „Windsheimer Zwölfbotenaltar“ von Tilman Riemenschneider in einer Sonderpräsentation.
AdresseKurpfälzisches Museum // Hauptstraße 97 // 69117 Heidelberg // Telefon: 06221 58–34020 // E-Mail: kurpfaelzischesmuseum@heidelberg.de
ÖffnungszeitenDienstag bis Sonntag 10–18 Uhr