Chor für Menschen die nicht singen können

Ein Chor für alle Fälle

Beim ALTER gibt’s keinen Strom. Deshalb ist heute Probe bei Julia Alicka zu Hause. Rund 20 Menschen sind es, die sich in Julias Wohnzimmer — Blick auf den Alten Messplatz und die Neckaruferbebauung — versammelt haben. Alter geschätzt von 30 bis 70, Männer und Frauen ungefähr fifty-fifty. Es gibt Tee aus großen Oma-Kannen, Wasser und Spezi, die Stimmung ist gut, Gespräche, Lachen und der Gast wird sofort begrüßt: „Hallo, ich bin der Thomas. Wer bist du?“ Eher Geburtstagsfeier als Chorprobe. Und mitten im Trubel: Julia Alicka, Gastgeberin, Initiatorin und Leiterin des „Chors für Menschen die nicht singen können“.

Von der Szenekneipe aufs Maifeld Derby

Gegründet hat sie den Chor im Mai 2022. Ein spontaner Aufruf über Social Media und gleich beim ersten Mal kamen um die 20 Menschen an den ALTER, den offenen Treff in der Neckarstadt. Einer davon war Manni, der bis heute beim Chor mitmacht und seinen Stolz auf das Projekt nur notdürftig verbergen kann. „Wir haben schon einen richtigen Fankreis“, berichtet er und zählt auf, wo der Chor schon aufgetreten ist: von den bescheidenen Anfängen in Szenekneipen über Auftritte am ALTER bis hin zu den Schillertagen am NTM und — absoluter Höhepunkt — dem Maifeld Derby im letzten Jahr. „Wir haben schon Respekt vor den Liedern, die wir singen. Aber wir versuchen, respektlos an die Musik heranzugehen“, sagt Manni und lacht.

Die Dynamik reicht von laut bis sehr laut

Jetzt bittet die Chorleiterin um Ruhe. Am folgenden Samstag spielt der Chor im Alten Volksbad als Vorprogramm der Hamburg-Berliner Szene-Ikone Bernadette La Hengst, die passenderweise so etwas wie die Schutzheilige aller Theken- und sonstigen wilden Chöre ist. Da muss noch einiges organisiert und geklärt werden. Und dann kann’s endlich losgehen. Als Einstieg probt der Chor „Das Zelt“ der Berliner Band Jeans Team. Die Singenden haben alle eine Mappe in der Hand, in der alle Lieder fein säuberlich abgeheftet sind. Allerdings nicht als Partituren, sondern nur die Texte. Auf musikalische Feinheiten wie Mehrstimmigkeit oder Notationen verzichtet der Chor großzügig. Stattdessen singen alle in schönstem Unisono, melodische Unebenheiten werden durch Enthusiasmus und Inbrunst wettgemacht. Die Dynamik reicht von laut bis sehr laut, vor allem beim Refrain „Kein Gott, kein Staat, keine Arbeit, kein Geld“ lassen sich die Sänger*innen von ihrer Begeisterung in ungeahnte Höhen forttragen. Zusammengehalten wird das Ganze von der choreigenen Band mit Gitarre, Bass, Percussion und Saxofon.

Punkrock in Chorform

Das Repertoire reicht von NDW-Knallern wie „Eisbär“ oder „Der Goldene Reiter“ über Protesthymnen von Ton Steine Scherben bis hin zu Nina Hagens Frühwerk „Du hast den Farbfilm vergessen. Und auch zwei Eigenkompositionen sind im Programm. Jenseits von Spaß und Begeisterung hat Julia Alicka mit dem Chor aber auch ein Anliegen: „Das Schöne und Erhabene kommt bei uns nicht durch die musikalisch ausgefeilte Darbietung, sondern dadurch, dass unterschiedliche Menschen zusammenkommen und sich mit dem Chor ausdrücken, eine Stimme geben.“ Für Alicka hat das auch eine politische Dimension, die sich nicht nur in der Auswahl der Lieder — „Die Häuser denen, die darin wohnen“ oder „Macht kaputt, was euch kaputtmacht“ — zeigt, sondern auch darin, dass Leute sich selbst ermächtigen, einfach singen, auch wenn sie vielleicht nicht singen können. Punkrock in Chorform.

Inzwischen ist die Probe schon weit fortgeschritten und manchmal wirkt Julia Alicka auch ein wenig verzweifelt. Etwa wenn der Chor bei „Eisbär“ abermals bereits beim ersten Textdurchlauf vom Moderato ins Vivace ausbricht. „Das ist das erste Lied, das wir bei der ersten Probe vor zwei Jahren gesungen haben, und ihr singt es immer noch falsch!“ Die Kritik ist harsch, die Chormitglieder geloben Besserung, ihrer guten Laune und Begeisterung tut das aber keinen Abbruch. Denn sie wissen, der Chor wird genau dafür geliebt, dass nicht alles perfekt ist. Und für das Maifeld Derby im Frühjahr sind sie ja auch schon wieder gebucht.

Chor für Menschen die nicht singen können
Probe immer freitags 17 Uhr
OASE am Alten Messplatz, Mannheim,
instagram.com/cfmdnsk
Bildnachweis:
Christian Kleiner

Chor für Menschen die nicht singen können

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