› Im vergangenen Jahr haben Sie eine Retrospektive zur zweiten Generation der Nouvelle Vague gezeigt. War das eine Generalprobe für die Jubiläumsretrospektive?
Sascha Keilholz: Die letztjährige Retrospektive war viel mehr als nur eine Generalprobe, sie war ein echtes Herzensprojekt. Wir haben dafür schon genauso intensiv gearbeitet wie jetzt. Der Unterschied ist, dass wir uns dazu entschieden haben, zum Jubiläum die Festivalgeschichte zu bearbeiten mit einem Fundus von mehreren Tausend Filmen. Herr Brühwiler, nach welchen Kriterien sind Sie vorgegangen, um daraus eine Auswahl zu treffen?
Hannes Brühwiler: Zunächst habe ich mir alle Jahresprogramme angeschaut und die Filme herausgeschrieben, die ich kannte, die ich interessant fand und die ich unbedingt anschauen wollte. Unser Ansatz war von Anfang an, möglichst breit und ohne vorgefasste Ideen zu sichten in der Hoffnung, dass sich im Laufe des Prozesses die Schlaglichter herauskristallisieren. Keilholz: Wir wollten nicht mit einem vorgefertigten Blick an die Retro herangehen, sondern in die Tiefe der Geschichte eindringen. Und dann ist es faszinierend, was man entdeckt. Wir wussten, dass das osteuropäische Kino in einer bestimmten Phase des Festivals eine Rolle gespielt hat, dass der dokumentarische Film am Anfang eine Rolle gespielt hat. Wir wussten, dass der deutsche Autorenfilm eine Rolle spielte, aber wie zentral er war und wer alles vertreten war, war dann ein Schlaglicht, dem wir folgen wollten.
Sie hätten auf große Namen wie Truffaut, Fassbinder oder Jarmusch, die alle bei diesem Festival schon vertreten waren, setzen können. Aber Sie bringen viele nicht mehr so bekannte Regisseur*innen. Gibt es Wiederentdeckungen, auf die Sie besonders stolz sind?
Brühwiler: Einer der schönsten Zufälle ist der portugiesische Film von Manuela Serra „O Movimento das Coisas“, der erste und einzige Film dieser Filmemacherin. Er wurde jetzt, 35 Jahre nach seinem Erscheinen, das erste Mal in Portugal regulär im Kino gezeigt. Daher hatte uns der Produzent angeschrieben und gefragt, ob er das Festival-Logo von damals auf das Plakat setzen darf, weil der Film einen Preis in Mannheim gewonnen hatte. Ich kannte den Film gar nicht und habe ihn mir daraufhin angeschaut. Ich war total begeistert von diesem ruhigen, beobachtenden Dokumentarfilm über ein Dorf im Norden Portugals. Keilholz: Wir wollen nicht die bekanntesten vier oder fünf Titel zeigen, sondern eine Bandbreite aufmachen. Den Gestus des Wiederentdeckens haben wir ernst genommen und dabei große Begeisterung entwickelt. Gérard Blain z.B. war als Schauspieler ein Protagonist der Nouvelle Vague, unter anderem in Truffauts „Les Mistons“, der in Mannheim lief. In den 70ern hat er begonnen, selbst Filme zu drehen und mit dem hierzulande völlig unbekannten „Un enfant dans la foule“ ein Meisterwerk geschaffen. Weitere Riesenentdeckungen sind für mich die beiden tschechischen Filme: Věra Chytilovás „Von etwas anderem“, der fiktionale und semidokumentarische Elemente faszinierend miteinander verbindet, sowie „Diamonds of a Night“ von Jan Němec über zwei Jungen auf der Flucht während des Zweiten Weltkriegs. Der zeitliche Rahmen geht von 1955 bis 1989 — von der Nachkriegszeit über die Studentenbewegung bis hin zum Fall der Mauer. Haben Sie diese Zeitspanne absichtlich gewählt?
Keilholz: Das Festival hat in bestimmten Phasen Neuanfänge und Umbrüche repräsentiert. Man erspürt entlang des Festivalprogramms, wie sich New Hollywood, der Neue Deutsche Film oder die Nouvelle Vague formiert haben. Wir sind diesen Sollbruchstellen nachgegangen und haben uns auf Filme fokussiert, die viel über ihre Zeit und das damalige politische Geschehen aussagen. Die Retrospektive hat einen Schwerpunkt in den 60er- und 70er-Jahren, das ist nicht überraschend, und kulminiert im Fall der Mauer. Die Jahreszahl 89 ist bewusst gewählt mit dieser historischen Zäsur, nach der sich politisch, gesellschaftlich und branchentechnisch vieles wandelt. Die Retrospektive beginnt 1955 mit „Pather Panchali“ von Satyajit Ray. Was hat Sie dazu bewegt, den Blick nach Indien zu richten?
Keilholz: Wir wollen noch einmal thematisieren, dass diese großartige Weltkarriere in Mannheim begonnen hat. Das indische Kino und auch unser Blick auf das indische Kino haben sich danach völlig gewandelt. Daher ist es für uns der perfekte Film, um diese Retro zu beginnen. Brühwiler: Ich würde mich so weit aus dem Fenster lehnen und sagen, das ist eines der schönsten Debüts der Filmgeschichte. Indien hat in den 50er-Jahren mit Abstand am meisten Filme produziert, aber sie waren nur im eigenen Land zu sehen. Dieser Film hat das mit einem Schlag geändert. Das war wirklich eine Zäsur in der Filmgeschichte. Auch in Zukunft werden Sie beim Festival Retrospektiven zeigen. Warum ist der Blick zurück so wichtig?
Keilholz: Gegenwärtiges Kino gibt es nicht ohne die Vergangenheit. Wir leben in der Postmoderne und jeder Film referenziert auf seine Vorgänger. „Titane“, der diesjährige Gewinner der Goldenen Palme, ist ein postmodernes, referenzielles Werk, das es ohne die 120 Jahre Filmgeschichte vorher nicht gäbe. Und auch wenn es ein staubiger Begriff ist: natürlich arbeiten wir im Bereich der Kulturvermittlung, haben einen Kulturauftrag. Und es macht großen Spaß, den wahrzunehmen! ‹
70. Internationales Filmfestival Mannheim-Heidelberg
11. bis 21. November 2021
verschiedene Locations in Mannheim und Heidelberg
www.iffmh.de
Frankreich, Deutschland 2021, Regie und Buch: Mathieu Amalric, mit Vicky Krieps, Arie Worthalter
Sektion: Pushing the Boundaries
Finnland 2020, Regie und Buch: Hamy Ramezan, mit Aran-Sina Keshvari, Shahab Hosseini
Sektion: Kinderfilmfest
Rumänien 2020, Regie und Buch: Alina Grigore, mit Ioana Chitu, Ioana Flora
Sektion: On the Rise
Spanien 2021, Buch und Regie: Ainhoa Rodríguez
Sektion: On the Rise
Sascha Keilholz: Die letztjährige Retrospektive war viel mehr als nur eine Generalprobe, sie war ein echtes Herzensprojekt. Wir haben dafür schon genauso intensiv gearbeitet wie jetzt. Der Unterschied ist, dass wir uns dazu entschieden haben, zum Jubiläum die Festivalgeschichte zu bearbeiten mit einem Fundus von mehreren Tausend Filmen. Herr Brühwiler, nach welchen Kriterien sind Sie vorgegangen, um daraus eine Auswahl zu treffen?
Hannes Brühwiler: Zunächst habe ich mir alle Jahresprogramme angeschaut und die Filme herausgeschrieben, die ich kannte, die ich interessant fand und die ich unbedingt anschauen wollte. Unser Ansatz war von Anfang an, möglichst breit und ohne vorgefasste Ideen zu sichten in der Hoffnung, dass sich im Laufe des Prozesses die Schlaglichter herauskristallisieren. Keilholz: Wir wollten nicht mit einem vorgefertigten Blick an die Retro herangehen, sondern in die Tiefe der Geschichte eindringen. Und dann ist es faszinierend, was man entdeckt. Wir wussten, dass das osteuropäische Kino in einer bestimmten Phase des Festivals eine Rolle gespielt hat, dass der dokumentarische Film am Anfang eine Rolle gespielt hat. Wir wussten, dass der deutsche Autorenfilm eine Rolle spielte, aber wie zentral er war und wer alles vertreten war, war dann ein Schlaglicht, dem wir folgen wollten.
Brühwiler: Einer der schönsten Zufälle ist der portugiesische Film von Manuela Serra „O Movimento das Coisas“, der erste und einzige Film dieser Filmemacherin. Er wurde jetzt, 35 Jahre nach seinem Erscheinen, das erste Mal in Portugal regulär im Kino gezeigt. Daher hatte uns der Produzent angeschrieben und gefragt, ob er das Festival-Logo von damals auf das Plakat setzen darf, weil der Film einen Preis in Mannheim gewonnen hatte. Ich kannte den Film gar nicht und habe ihn mir daraufhin angeschaut. Ich war total begeistert von diesem ruhigen, beobachtenden Dokumentarfilm über ein Dorf im Norden Portugals. Keilholz: Wir wollen nicht die bekanntesten vier oder fünf Titel zeigen, sondern eine Bandbreite aufmachen. Den Gestus des Wiederentdeckens haben wir ernst genommen und dabei große Begeisterung entwickelt. Gérard Blain z.B. war als Schauspieler ein Protagonist der Nouvelle Vague, unter anderem in Truffauts „Les Mistons“, der in Mannheim lief. In den 70ern hat er begonnen, selbst Filme zu drehen und mit dem hierzulande völlig unbekannten „Un enfant dans la foule“ ein Meisterwerk geschaffen. Weitere Riesenentdeckungen sind für mich die beiden tschechischen Filme: Věra Chytilovás „Von etwas anderem“, der fiktionale und semidokumentarische Elemente faszinierend miteinander verbindet, sowie „Diamonds of a Night“ von Jan Němec über zwei Jungen auf der Flucht während des Zweiten Weltkriegs. Der zeitliche Rahmen geht von 1955 bis 1989 — von der Nachkriegszeit über die Studentenbewegung bis hin zum Fall der Mauer. Haben Sie diese Zeitspanne absichtlich gewählt?
Keilholz: Das Festival hat in bestimmten Phasen Neuanfänge und Umbrüche repräsentiert. Man erspürt entlang des Festivalprogramms, wie sich New Hollywood, der Neue Deutsche Film oder die Nouvelle Vague formiert haben. Wir sind diesen Sollbruchstellen nachgegangen und haben uns auf Filme fokussiert, die viel über ihre Zeit und das damalige politische Geschehen aussagen. Die Retrospektive hat einen Schwerpunkt in den 60er- und 70er-Jahren, das ist nicht überraschend, und kulminiert im Fall der Mauer. Die Jahreszahl 89 ist bewusst gewählt mit dieser historischen Zäsur, nach der sich politisch, gesellschaftlich und branchentechnisch vieles wandelt. Die Retrospektive beginnt 1955 mit „Pather Panchali“ von Satyajit Ray. Was hat Sie dazu bewegt, den Blick nach Indien zu richten?
Keilholz: Wir wollen noch einmal thematisieren, dass diese großartige Weltkarriere in Mannheim begonnen hat. Das indische Kino und auch unser Blick auf das indische Kino haben sich danach völlig gewandelt. Daher ist es für uns der perfekte Film, um diese Retro zu beginnen. Brühwiler: Ich würde mich so weit aus dem Fenster lehnen und sagen, das ist eines der schönsten Debüts der Filmgeschichte. Indien hat in den 50er-Jahren mit Abstand am meisten Filme produziert, aber sie waren nur im eigenen Land zu sehen. Dieser Film hat das mit einem Schlag geändert. Das war wirklich eine Zäsur in der Filmgeschichte. Auch in Zukunft werden Sie beim Festival Retrospektiven zeigen. Warum ist der Blick zurück so wichtig?
Keilholz: Gegenwärtiges Kino gibt es nicht ohne die Vergangenheit. Wir leben in der Postmoderne und jeder Film referenziert auf seine Vorgänger. „Titane“, der diesjährige Gewinner der Goldenen Palme, ist ein postmodernes, referenzielles Werk, das es ohne die 120 Jahre Filmgeschichte vorher nicht gäbe. Und auch wenn es ein staubiger Begriff ist: natürlich arbeiten wir im Bereich der Kulturvermittlung, haben einen Kulturauftrag. Und es macht großen Spaß, den wahrzunehmen! ‹
70. Internationales Filmfestival Mannheim-Heidelberg
11. bis 21. November 2021
verschiedene Locations in Mannheim und Heidelberg
www.iffmh.de
Filmtipps
Serre-moi fort
Eine junge Frau verlässt scheinbar ihre Familie, durchquert auf dem Weg an die Küste in einem alten roten AMC Station Wagon ein gespenstisches Frankreich. Die Realität ist brüchig. Bild und Ton stehen immer deutlicher in Widerspruch zueinander, die zeitlichen Abläufe stimmen ebenso wenig. In „Serre-moi fort“ verschränkt der als Bond-Bösewicht bekannte Schauspieler und Regisseur Mathieu Amalric Reise und Rekonstruktion miteinander. Die geisterhafte Atmosphäre und intensive innere Spannung werden durch das eindringliche Spiel von Vicky Krieps („Der seidene Faden“, „Das Boot“, „Bergman Island“) verstärkt.Frankreich, Deutschland 2021, Regie und Buch: Mathieu Amalric, mit Vicky Krieps, Arie Worthalter
Sektion: Pushing the Boundaries
Any Day Now
„Wie spreche ich ein Mädchen an?“, fragt der 13-jährige Ramin seinen Vater. Normale Teenager-Probleme hat der Junge, doch er weiß, dass die Eltern sich um die Zukunft sorgen. Die Familie ist aus dem Iran geflohen und hofft, im ländlichen Finnland eine zweite Heimat zu finden. Ramin und seine Schwester haben sich schnell eingelebt, während die Eltern versuchen, in der Flüchtlingsunterkunft ein Zuhause einzurichten — obwohl ihr Asylantrag täglich abgelehnt werden könnte. Hamy Ramezan erzählt behutsam von diesem Schwebezustand und lässt der Familie Raum, sie selbst zu sein. Damit gibt er ihr etwas Normalität zurück und es bleibt sogar noch Platz für Ramins erstes Verliebtsein.Finnland 2020, Regie und Buch: Hamy Ramezan, mit Aran-Sina Keshvari, Shahab Hosseini
Sektion: Kinderfilmfest
Blue Moon
Irina lebt mit ihrer Großfamilie im ländlichen Rumänien. Sie ist intelligent, hart, aber auch verletzlich und sentimental. Vor allem jedoch will sie raus, in die Stadt, studieren, der Familie entkommen. Oder doch nicht? Die Atmosphäre in der Familie ist geprägt von Geheimnissen und dem Kampf um Privatheit. Irinas zentraler Gegenspieler ist Cousin Liviu, der sich um die dubiosen Geschäfte der Familie kümmert. Regisseurin Alina Grigore hält die Machtverhältnisse zwischen den Figuren immer in Bewegung und offenbart so deren Verwicklungen.Rumänien 2020, Regie und Buch: Alina Grigore, mit Ioana Chitu, Ioana Flora
Sektion: On the Rise
Destello bravio
Männer, die sich anheulen wie Wölfe oder an der Zimmerdecke lecken. Frauen, die sich über ihre Kleidung unterhalten und dabei verträumt liebkosen. Ein raunender Berg. Ort dieses absurden Geschehens ist eine spanische Kleinstadt zwischen Patriarchat, Katholizismus und Überalterung. Unerfüllte Sehnsüchte der Frauen prallen auf die Unzulänglichkeiten einer dem Untergang geweihten Männerwelt. Eine Geschichte verzweifelter Ausbruchsversuche. Wer hätte gedacht, dass Absurdität und Morbidität derart erfrischend sein können!Spanien 2021, Buch und Regie: Ainhoa Rodríguez
Sektion: On the Rise
Bildnachweis:
Filmstill aus „Medium Cool“, USA, 1969Internationales Filmfestival Mannheim-Heidelberg
Das Internationale Filmfestival Mannheim-Heidelberg genießt als Forum für junge Talente einen internationalen Ruf. Regisseure wie François Truffaut, Wim Wenders, Rainer Werner Fassbinder, Krzysztof Kieslowski, Jim Jarmusch, Lars von Trier oder später Thomas Vinterberg, Frédéric Fonteyne, Guillaume Nicloux, Derek Cianfrance, Hong Sang-soo starteten in Mannheim- Heidelberg ihre Weltkarrieren. Neben rund 60.000 Besuchern kommen jedes Jahr etwa 1.000 internationale Gäste aus der Filmbranche. Dazu gehören Journalisten, Sales Agents, Verleiher und Produzenten.
TerminDO 11. bis SO 21. November 2021
AdresseIFFMH – Filmfestival Mannheim gGmbH // Kleiststraße 3–5 // 68167 Mannheim // Telefon: +49 621 - 489262-11 // E-Mail: info@iffmh.de
Spielortealle Kinos in Mannheim und Heidelberg, Festival-Lounges im Stadthaus Mannheim und im Karlstorbahnhof Heidelberg
Infoswww.iffmh.de