Kunsthalle Mannheim

Quell der Inspiration

› „Matisse z.T. recht wüst“, vermerkten Max Pechstein und Ernst Ludwig Kirchner lakonisch auf einer Postkarte an den in Dresden gebliebenen Erich Heckel. Die beiden waren im Januar 1909 nach Berlin gereist, um sich die Retrospektive des aufstrebenden französischen Künstlers Henri Matisse (1869–1954) anzuschauen. „Die Brücke-Künstler waren zerrissen zwischen dem Glücksgefühl, auf einen Geistesverwandten zu stoßen, und dem Schock, den die Kompromisslosigkeit der Werke auslöste“, erklärt der Kunsthistoriker Peter Kropmanns. Er ist Kurator der Ausstellung „Inspiration Matisse“, die 150 Jahre nach der Geburt des französischen Künstlers seinem Werk und Wirken nachspürt.

Matisse zählt zu den Wegbereitern der Moderne — er ist Synonym für malerische Innovation bis an die Grenze zur Abstraktion. „Als ‚Künstler für Künstler‘ hat er am Beginn des 20. Jahrhunderts mit zeichenhaften und farbintensiven Werken eine jüngere Generation französischer und deutscher Künstler inspiriert und von festgefahrenen Traditionen befreit“, erläutert Kropmanns. Dabei deutete zunächst gar nichts auf eine Künstlerkarriere hin. Matisse studierte Jura, als ihn im Alter von zwanzig Jahren eine Krankheit für ein Jahr ans Bett fesselte und er mit dem Malen begann. Es folgten entbehrungsreiche Jahre, bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts und mit der Herausbildung des fauvistischen Stils sein Durchbruch erfolgte.

Als die Kunst von Matisse in Deutschland Anfang des 20. Jahrhunderts erstmals in Erscheinung trat, spaltete sich das Publikum in leidenschaftliche Anhänger und nicht minder passionierte Gegner. Im Dezember 1908 reiste Matisse nach Berlin, wo im Januar 1909 eben die Retrospektive seiner Kunst, die auch die zitierten Brücke-Künstler besuchten, über die Grenzen der Reichshauptstadt hinaus von sich reden machte. Nahezu alle jüngeren wie etablierten Künstler sahen diese Ausstellung des Kunstsalons. Die Diskussion über die auf viele so neuartig wirkende Kunst begann 1906/07, als einzelne seiner Werke bei einer Wanderausstellung neuerer französischer Kunst erstmals auf deutschem Boden zu sehen waren — in München, Frankfurt am Main, Dresden, Karlsruhe und Stuttgart.

Ein neuer Stern am Kunsthimmel

Die progressiven und frankophilen deutschen Kritiker erkannten in Matisse einen neuen Stern am Kunsthimmel, einen Revolutionär, der fortsetzte, was van Gogh, Gauguin, Seurat, Signac und vor allem Cézanne begonnen hatten, während die konservative Presse befürchtete, die jungen deutschen Künstler könnten mit einem unheilvollen Virus infiziert werden und es ihm gleichtun. „Zwar war es Konsens, dass es wieder eine starke, neue deutsche Kunst geben müsse“, erklärt Kropmanns. „Doch viele meinten, eine solche sollte sich unabhängig von der Pariser Kunst entwickeln.“

Matisse verband mit Deutschland vor allem Erinnerungen an drei Reisen. Bei diesen besuchte er Museen, Sammler, die große Ausstellung islamischer Kunst auf der Münchner Theresienwiese 1910, aber auch traditionsreiche gastronomische Betriebe wie den Münchner Löwenbräukeller. „Matisse ließ sich dort mit einem Vorläufer des Photomaton neben seinen deutschen Begleitern Albert Weisgerber und Hans Purrmann mit hochgehaltenen Maßkrügen ablichten“, berichtet Kropmanns. Ob er selbst jemals in der Quadratestadt war, ist nicht überliefert. Jedoch war er in der Region: 1908 besichtigte er in Heidelberg das große Fass im Schloss. In Speyer besuchte er Hans Purrmann, der damals Schüler in seiner privaten Malschule „Académie Matisse“ war, in der Matisse von 1908 bis 1910 bis zu 40 Schüler aus dem In- und Ausland unterrichtete.
  • Bei der Ausstellung in Mannheim ist die gesamte Bandbreite des künstlerischen Schaffens von Henri Matisse zu erleben. Mit dabei sind Plastiken wie diese.
    Henri Matisse, Weiblicher Rückenakt IV | Nu de dos IV, 1930, Bronze, Kunsthalle Mannheim © Succession H. Matisse/ VG Bild-Kunst, Bonn 2018
  • Außerdem werden Druckarbeiten gezeigt.
    Henri Matisse, Großer Holzschnitt |Grand Bois, 1906, Holzschnitt, 58,4 x 46,5 cm
    Kunsthalle Mannheim © Succession H. Matisse/ VG Bild-
    Kunst, Bonn 2018, Foto: Kunsthalle Mannheim / Cem Yücetas
  • Und die berühmten Gemälde sind natürlich auch mit dabei.
    Henri Matisse, Akt im Wald | Nu dans la forêt, 1906, Öl auf Holz, 40.6 x 32.4 cm, Brooklyn Museum, Geschenk von George F. Of, 52.150 © Succession H. Matisse/ VG Bild-Kunst, Bonn 2019
  • Der Meister bei der Arbeit.
    Edward Steichen: Henri Matisse, an „La Serpentine“ arbeitend, 1909,Fotogravüre, 22 x 17,4 cm, Paris, Musée
    d’Orsay, VG Bild-Kunst, Bonn 2018
    Edward Steichen © VG Bild-Kunst, Bonn
    2018
Matisse im Kreise seiner Zeitgenossen

Mit mehr als 135 Gemälden, Plastiken, Keramiken und grafischen Arbeiten zeigt die Kunsthalle Mannheim den Pionier der Moderne im Kreis seiner Zeitgenossen: von den französischen Fauvisten über die deutschen Expressionisten bis hin zu Schülern der „Académie Matisse“. Neben Werken von Matisse sind zentrale Werke von Künstlerinnen und Künstlern wie André Derain, Georges Braque, Ernst Ludwig Kirchner, Alexej von Jawlensky, August Macke, Gabriele Münter sowie Max Pechstein und Hans Purrmann zu sehen. Die verschiedenen künstlerischen Positionen treten in einen offenen Dialog und ermöglichen neue Perspektiven. Kurator Peter Kropmanns: „Es soll deutlich werden, dass Matisse formal wie inhaltlich neue Wege wies und zugleich wie ein Katalysator für jeweils individuelle künstlerische Befreiungen wirkte.“

Die Schau zeigt kostbare Leihgaben aus Museen und privaten Sammlungen im In- und Ausland. Dabei wird die Entwicklung vom Frühwerk bis zur progressiven Position des vierten Rückenakts 1930 vor Augen geführt und der historische Kontext erläutert, in dem seine Kunst in Deutschland prägend wurde. Die monografisch beginnende und endende Ausstellung ist durch drei Erweiterungen geprägt. Die erste gilt den französischen Künstlerfreunden, die während der Zeit des Fauvismus von Matisse Impulse empfingen, aber auch an ihn weitergaben. Die zweite nimmt die deutsche Avantgarde der Brücke und der Neuen Künstlervereinigung München, Keimzelle des Blauen Reiters, in den Blick, die in Dresden, Berlin, München mit Oberbayern und Bonn heranreifte und Matisse unterschiedlich intensiv wahrnahm. Der dritte Exkurs stellt bedeutende deutsche Künstler vor, die als Schülerinnen und Schüler der „Académie Matisse“ in Paris in enger Tuchfühlung zu Theorie und Praxis des Meisters standen.‹

Inspiration Matisse
27. September 2019 bis 19. Januar 2020
Kunsthalle Mannheim
www.kuma.art

Kunsthalle Mannheim

Die Kunsthalle Mannheim zählt mit ihren Spitzenwerken von Edouard Manet bis Francis Bacon und ihrem Skulpturenschwerpunkt zu den renommiertesten Sammlungen von deutscher und internationaler Kunst der Moderne und der Gegenwart. Hochkarätige Sonderschauen internationaler zeitgenössischer Kunst vervollständigen das Ausstellungsprogramm. Gezeigt werden sie im Kerngebäude, dem imposanten, frisch sanierten Jugendstilbau von Hermann Billing aus dem Jahre 1907. Bis 2017 entsteht außerdem ein zukunftsweisender Neubau, der die Ausstellungsfläche um rund 1.300 Quadratmetern erweitert.
AdresseKunsthalle Mannheim // Friedrichplatz 4 // 68165 Mannheim // Tel. 0621 293 6413 // kunsthalle@mannheim.de
ÖffnungszeitenDienstag bis Sonntag 10–18 Uhr, Mittwoch 10–20 Uhr, 1. Mittwoch im Monat 18-22 Uhr (freier Eintritt)
  • Das sollten Sie nicht verpassen

    Liebe, Alltag, Akro­baten. Graphik um 1900
    Als Ergänzung der Sonderausstellung „Inspiration Matisse“ präsentiert die Ausstellung „Liebe, Alltag, Akrobaten. Graphik um 1900“ ­Originale und Druckgrafiken aus der Mannheimer Samm­lung, die um 1900 entstanden sind. Dazu ge­hören Blätter von Henri Matisse, Maurice Denis, Henri de Toulouse-Lautrec, Émile Bernard, Pierre Bonnard, Édouard Vuillard und Georges Rouault.
    25.10.2019 bis 12.01.2020, www.kuma.art
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