TECHNOSEUM

Eine Maschine mit Geschichte

› Die Dampfmaschine war der Motor der industriellen Revolution: Sie trieb Werkzeugmaschi-nen und Pumpen an, aber auch Fahrzeuge wie Lokomotiven und Schiffe sowie später Generatoren. Die Dampfmaschine, die heute im TECHNOSEUM ausgestellt ist, wird 1908 von der Maschinen- und Kesselfabrik, Eisen- und Gelbgießerei G. Kuhn in Stuttgart gebaut, Auftraggeber ist die Waggonfabrik H. Fuchs in Heidelberg. 1920 verkauft das Unternehmen die Maschine weiter — und zwar an die W. Döllken & Co. GmbH in Werden, heute ein Stadtteil von Essen.

Diese Firma stellt anfangs Holzteile für die Möbelfertigung her, später vor allem Holzleisten. Gegründet wurde sie 1887 von Wilhelm Döllken, einem Möbelschreiner, und Leopold Simon. Letzterer steuert zu Beginn in erster Linie die Finanzierung bei, steigt aber nach dem frühen Tod seines Kompagnons 1888 in die Firma ein und wird zum alleinigen Geschäftsführer. Den Namen der Firma Döllken ändert Simon nicht. Vielleicht, weil er jüdischen Glaubens ist und Nachteile fürchtet?

600 Mitarbeiter*innen und eine Dampfmaschine

Zwei seiner Söhne, Ernst und Otto Simon, betreiben das Unternehmen nach dem Tod des Vaters im Jahr 1906 weiter. Es wächst rasant, ein neues Sägewerk und ein Holzverarbeitungswerk entstehen — und die gebraucht erworbene Dampfmaschine mit Generator und 700 PS Leistung übernimmt die Energieversorgung. „In den 1920er-Jahren ist Döllken ein Global Player“, berichtet Dr. Daniel Römer, der als Kurator am TECHNOSEUM die Sammlungsbestände zum Thema Energie betreut. „Das Unternehmen ist im Großhandel tätig und importiert Holz in großem Stil unter anderem aus Nordeuropa und Südamerika.“ Mehr als 600 Mitarbeiter hat Döllken zu diesem Zeitpunkt.
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    Hochzeitsfoto – Firmenerbe Ernst Simon und seine Frau Else im Jahr 1901. (Alte Synagoge Essen, Archiv)
Besonders Ernst Simon treibt das Wachstum des Unternehmens mit diversen Innovationen voran: So erfindet er eine Maschine, mit der sich Leisten herstellen lassen, außerdem führt er eine Prozesssteuerung für fabrikinterne Arbeitsabläufe ein. Und nicht zuletzt entwickelt er ein Verfahren, mit dem sich die Dampfmaschine aus den Holzabfällen der Fabrik befeuern lässt. Dieses Verfahren ist damals absolut neu und besonders sparsam, weshalb Ernst Simon es patentieren lässt und auch kostenpflichtig lizenziert — unter anderem an Firmen in Großbritannien. „Die Sparfeuerung ist äußerst nachhaltig. Heute würde man von grünem Strom sprechen“, erklärt Römer. Ernst Simon ist nicht nur Erfinder, sondern er ist auch in Politik und Wirtschaft bestens vernetzt und anerkannt. 1929 erhält er die Ehrendoktorwürde der Technischen Hochschule Braunschweig, und auch im Stadtrat von Werden sitzt er zwischenzeitlich. Zu seinen Freunden zählt der spätere Bundespräsident Gustav Heinemann.

Den Nazis ausgeliefert

Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten beginnen die Verbrechen an der Fabrikantenfamilie: Ernsts Bruder Otto wandert bereits 1933 in die Niederlande aus, wird nach der Besetzung der Niederlande durch die Deutschen jedoch ins KZ Bergen-Belsen deportiert, wo er stirbt. Weitere Familienmitglieder werden von den Nationalsozialisten in anderen Konzentrationslagern ermordet. 1938 muss Ernst Simon seine Unternehmensanteile weit unter Wert an einen bayerischen Holzhändler verkaufen, die Firma wird „arisiert“. Nach der Reichspogromnacht wird er zunächst verhaftet, kann sich aber über Holland in die USA retten. Einen Großteil des verbliebenen Geldes muss er aufwenden, um für sich und seine Familie eine „Reichsfluchtsteuer“ ans Deutsche Reich zu entrichten. Im August 1945 stirbt Ernst Simon mittellos in den Vereinigten Staaten. Vier Jahre später erreicht seine Familie eine Wiedergutmachung. Bei den Verhandlungen steht den Simons erneut Gustav Heinemann als Anwalt zur Seite.

Bis heute stellt das Unternehmen Döllken Leisten her, mittlerweile allerdings aus Kunststoff. Und die Dampfmaschine? War noch bis in die 1980er-Jahre in der Werdener Fabrik im Einsatz, wenn auch seit den 1960ern nur noch als Reserve. 1987 kam sie schließlich ins TECHNOSEUM, das sich damals gerade im Aufbau befand.

Kontakt zu den Nachkommen

Mit der Wiedergutmachung sind formalrechtlich sämtliche Ansprüche der Familie Simon abgegolten — doch für das TECHNOSEUM ist die Sache damit nicht erledigt: Zu den Nachkommen, die in den Niederlanden und den USA leben, hat Daniel Römer Kontakt. Er arbeitet an einer Aufarbeitung der Firmen- und Familiengeschichte: „Diese Dampfmaschine ist eine der ganz wenigen Exemplare in Europa, die noch mit Dampf betrieben und regelmäßig vorgeführt wird. Das allein macht sie schon zu etwas Besonderem.“ Nun kann diesem Exponat noch ein weiteres erinnerungswürdiges Kapitel hinzugefügt werden. ‹


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    Klaus Luginsland, © TECHNOSEUM

Die Dampfmaschine in Zahlen

Baujahr: 1908
Länge: 13 Meter
Durchmesser des Schwungrads: 5,37 Meter
Gewicht: 80 Tonnen
Leistung: 700 PS


Die Dampfmaschine wird regelmäßig vorgeführt. Die tagesaktuellen Termine können an der Museumskasse erfragt werden.
Bildnachweis:
Wilhelm Poetter, „40 Jahre Döllken & Co.“, 1927

TECHNOSEUM

Das TECHNOSEUM ist eines der großen Technikmuseen in Deutschland. Die Entwicklungen in Naturwissenschaften und Technik vom 18. Jahrhundert bis heute sowie der soziale und wirtschaftliche Wandel, den die Industrialisierung ausgelöst hat, sind Themen der Dauerausstellung. Maschinen werden nicht einfach gezeigt, sondern in Ensembles inszeniert, Vorführtechniker erklären Arbeitsabläufe und beantworten Fragen. Selbst aktiv werden darf man in der Experimentier-Ausstellung „Elementa“: Technische Erfindungen lassen sich hier durch eigenes Ausprobieren nacherleben. Mit Sonderausstellungen zu Themen aus Naturwissenschaften, Technik und Gesellschaft ist das Museum zugleich Forum für aktuelle Debatten. Komplettiert wird das Programm durch Vorträge, Workshops und spezielle Angebote für Kinder und Jugendliche.
AdresseTECHNOSEUM // Landesmuseum für Technik und Arbeit in Mannheim // Museumsstr. 1 // 68165 Mannheim // Telefon: 0621 4298-9 // E-Mail: info@technoseum.de
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