› Es ist wohl das berühmteste Violoncello der Welt und seine Geschichte so unglaublich, dass Wolf Wondratschek daraus einen Roman machte. Gebaut wurde es 1711 in Cremona vom legendären Antonio Stradivari, seinen Namen hat es von einem für seine Eskapaden berüchtigten Virtuosen, der es einst spielte: „Mara“, mehr als 300 Jahre alt, ist mit seinen Besitzern mehrfach um die Welt gereist und bei einem Schiffsunglück im Rio de la Plata fast ums Leben gekommen. Wie es schließlich auf wundersame Weise überlebte, lässt der Autor das Instrument selbst erzählen und liefert nebenbei, wie es Fritz J. Raddatz ausdrückte, „eine kleine Kulturgeschichte“ und eine „Liebeserklärung an die Musik“. Bei den Schwetzinger Festspielen liest Wolf Wondratschek aus diesem zauberhaften Roman und das Mara erklingt, gespielt von Christian Poltéra, der es 2012 von seinem Lehrer Heinrich Schiff übernehmen durfte. Der Schweizer Cellist gehört zu den besten seiner Zunft und ist in dieser Festspielsaison Residenzkünstler in Schwetzingen. Poltéra ist Kammermusiker aus Leidenschaft. Seine drei exquisiten Programme sind sorgfältig konzipiert. Einen Duoabend mit Werken von Brahms, Schumann, Liszt und Chopin gestaltet er gemeinsam mit dem holländischen Pianisten Ronald Brautigam. Dieser spielt, ganz im Sinne einer historisch informierten Interpretation, Hammerklavier; das Stradivarius wird mit Darmsaiten bespannt sein und seinen unverwechselbaren Klang entfalten, „unaufdringlich, aber sehr präsent“, wie ihn Christian Poltéra beschreibt.
Eine Sternstunde der Kammermusik erwartet das Schwetzinger Festspiel-Publikum, wenn der Cellist gemeinsam mit seiner Frau, der preisgekrönten Geigerin Esther Hoppe, dem französischen Klarinettisten Pascal Moraguès und dem finnischen Pianisten Juho Pohjonen zwei grandiose Werke aufführen wird: Schuberts großes Klaviertrio in B-Dur, ein Gipfelwerk romantischer Kammermusik, und das „Quatuor pour la fin du temps“ von Olivier Messiaen. Das „Quartett auf das Ende der Zeit“ gehört zu den bedeutendsten Kammermusikwerken des 20. Jahrhunderts. Uraufgeführt wurde es am 15. Januar 1941 in einem deutschen Kriegsgefangenenlager in Görlitz, in dem der Komponist und die Interpreten der Uraufführung interniert waren. In seiner musikalischen Auseinandersetzung mit apokalyptischen Texten gehört es zu den intensivsten Werken des französischen Komponisten und legt Zeugnis davon ab, dass Musik auch in Zeiten von Krieg und menschlicher Not Hoffnung und Zuversicht entfalten kann. Trösten, Gemeinschaft stiften, zum Nachdenken anregenZeiten, wie wir sie, nach Jahren des Friedens in Europa und stetig wachsenden Wohlstands, seit Putins Einmarsch in die Ukraine vor einem Jahr nun wieder erleben. Doch schon mit der Pandemie wurde die Vergänglichkeit allen Seins schmerzhaft bewusst. Und die alarmierenden Entwicklungen des menschengemachten Klimawandels kann kaum jemand noch ausblenden. Was aber hat all dies mit einem Musikfestival zu tun? Soll Musik nicht unterhalten, die Sorgen und Probleme des Alltags wenigstens für Momente vergessen machen? Doch, das soll sie, aber sie kann und soll auch mehr: trösten, Gemeinschaft stiften, aber auch zum Nachdenken anregen. Der Blick in die Geschichte lehrt uns, dass in Zeiten tiefgreifender Krisen das Nachdenken über die Endlichkeit des Lebens an Bedeutung gewinnt und die Kunst sich oft als Seismograf der Wirklichkeit erweist. So finden wir etwa in der Zeit der großen Pestepidemien und nach den Verheerungen des Dreißigjährigen Krieges vor allem in der Bildenden Kunst des Barockzeitalters eine Fülle von Vanitas-Motiven: Skelette, Totenschädel, Sanduhren, Kerzen, Münzen, Schmuck, verwelkende Blumen und Früchte sind Sinnbilder für Eitelkeit und Vergänglichkeit menschlichen Lebens. Auch Musikinstrumente und Notenblätter sind beliebte Vanitas-Sujets, ist die Musik doch eine flüchtige Kunst, denn der Klang vergeht im Moment seines Entstehens.
Das umfangreiche Programm dieses Festspieljahrgangs vermittelt einen Eindruck davon, wie sich Komponisten in den vergangenen Jahrhunderten mit der Vergänglichkeit schöpferisch auseinandergesetzt haben. So stellt das Vokalensemble La Venexiana Werke von Claudio Monteverdi vor, die dieser unter dem Eindruck der Pest in Venedig komponiert hat. Concerto de’ Cavalieri mit Dorothee Mields als Solistin komponiert ein Programm um allegorische Figuren aus der Musikgeschichte, die Eitelkeit und Vergeblichkeit menschlichen Strebens verkörpern. Mit der Masque „Cupid and Death“ wird ein vergessenes Genre in einer szenischen Produktion des französischen Ensemble Correspondances zurück auf die Bühne geholt, eine ausgesprochen unterhaltsame Parabel auf eine aus den Fugen geratene Welt. Die Zauber-Oper „Zemira e Azor“ von André-Ernest-Modeste Grétry — ein Renner im musikalischen Europa des 18. Jahrhunderts — kehrt nach 250 Jahren in einer Koproduktion mit dem Nationaltheater Mannheim zurück nach Schwetzingen und verspricht beste musikalische Unterhaltung. Opulentes Fest der MusikDie Auseinandersetzung mit der Endlichkeit menschlichen Lebens, mit dem Tod, findet bis in die jüngste Gegenwart künstlerischen Niederschlag, oft mit politischen oder persönlichen Akzenten. Isabel Mundrys Oper „Im Dickicht“ kreist um die Thematik eines gewaltsamen Todes, der Liederzyklus von Wolfgang Rihm, den Georg Nigl singen wird, reflektiert die Erfahrung schwerer Krankheit. Salvatore Sciarrinos abendfüllendes Werk „Vanitas. Natura morta in un atto“ wiederum greift Textfragmente aus der Blütezeit der barocken Vanitas-Literatur auf. Ein opulentes Fest der Musik also erwartet die Besucherinnen und Besucher im Frühjahr und setzt — sekundiert vom blühenden Schwetzinger Schlossgarten — der Vergänglichkeit ein Momentum von Gemeinsamkeit und Freude entgegen. ‹Schwetzinger SWR Festspiele 2023 — Motto „Vanitas“
29. April bis 28. Mai 2023
Schloss Schwetzingen / Dreifaltigkeitskirche, Speyer / St. Sebastian, Kulturkirche Ketsch
www.schwetzinger-swr-festspiele.de
Tipp! Alle Konzerte zum Nachhören auf www.swrclassic.de
29. April bis 28. Mai 2023
Schloss Schwetzingen / Dreifaltigkeitskirche, Speyer / St. Sebastian, Kulturkirche Ketsch
www.schwetzinger-swr-festspiele.de
Tipp! Alle Konzerte zum Nachhören auf www.swrclassic.de
Bildnachweis:
Juan Sánchez Cotán, Stilleben, 1602Schwetzinger SWR Festspiele
Die Schwetzinger SWR Festspiele sind seit 1952 ein internationales Festival der klassischen Musik. Jährlich präsentieren sie im Frühjahr in den historischen Räumlichkeiten des Schwetzinger Schlosses über 50 Konzerte. Ihre Veranstaltungen werden vom Rundfunk begleitet und weltweit gesendet. Neben zahlreichen Konzerten umfasst das Programm auch Oper und Musiktheater, Klanginstallationen und viele SWR Kultur Sendungen vor Ort. Im Auftrag der Festspiele entsteht jedes Jahr eine Musiktheaterproduktion, mit deren Uraufführung die Saison festlich eröffnet wird.
TerminSA 29. April bis SO 28. Mai 2023
AdresseSchwetzinger SWR Festspiele gGmbH // Hans-Bredow-Straße // 76530 Baden-Baden //Kartentelefon: 07221 300200
SpielorteSchwetzinger Schloss, Dom zu Speyer und Dreifaltigkeitskirche, Speyer
Ticketsswrservice.de