Mannheimer Sommer

„Die Kunst ist nicht verschwunden“

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    Improvisationskünste gefragt – Jan Dvorák, künstlerischer Leiter des Mannheimer Sommer
› Herr Dvorák, der Mannheimer Sommer wird in diesem Jahr ein digitales Festival. Wie kam es dazu?
Tja, das war ein langer Weg. Wir hatten uns im März gesagt, dass unser Festival erst Mitte Juli stattfindet und bis dahin alles schon wieder ganz anders sein könnte, die Lage wechselte ja jede Woche. Deshalb haben wir diese quälenden Zeiten der Ungewissheit ausgehalten und auch unsere Künstlerinnen und Künstler immer wieder vertröstet. Nachdem sich nun aber allmählich die Bedingungen herauskristallisieren, unter denen künftig Theater stattfinden kann, ist uns schnell klar geworden, dass das Nationaltheater bis zur Sommerpause alle Hände voll zu tun hat, um sich für die nächste Spielzeit vorzubereiten. Jeder einzelne Arbeitsvorgang innerhalb des Hauses muss ja neu organisiert und bewertet werden. Ein „Coronafestival“ innerhalb der nächsten Wochen aus dem Boden zu stampfen, war unter diesen Umständen einfach nicht drin. So haben wir uns für eine reichhaltige digitale Version entschieden.

Wäre es nicht einfacher gewesen, das Festival abzusagen?
Es ist uns einfach extrem wichtig, ein Zeichen dafür zu setzen, dass die Kunst nicht verschwunden ist in dieser Krise. Dass sie im Gegenteil das beste Mittel gegen Krisen fast jeder Art ist. Kunst stiftet Sinn. Das ist viel wert.

Haben Sie das Programm komplett umgekrempelt oder konnten Sie einige von Ihren Vorhaben retten?
Da wir in diesem Jahr die europäische Aufklärung, die Oper und den Orient in Beziehung setzen, haben wir viele tolle Gastkünstler aus Nordafrika und Frankreich angefragt: die Sängerin Ghalia Benali, die Choreografen Omar Rajeh und Boris Charmatz, die Autorin Aslı Erdogan, die Regisseure Philippe Quesne oder Luk Perceval, Hotel Pro Forma und viele mehr. Die werden zwar alle zu Hause bleiben, aber ihre Arbeiten wollen wir dennoch präsentieren.


„Kunst ist das beste Mittel gegen Krisen fast jeder Art“


Was muss man sich unter einem digitalen Festival vorstellen?
Das ist tatsächlich ein großes Wort. Ich bevorzuge es deshalb, zu sagen, dass wir das Festivalprogramm digital darstellen. Wir werden ungefähr in der geplanten Reihenfolge Stücke und Arbeiten der ursprünglich eingeladenen Künstler und Künstlergruppen streamen. Es wird Einführungen geben, Hintergrundtexte, Bilder und einige speziell entwickelte Formate. Da das Festivalthema sehr reich ist, gibt es da zum Glück viel spannendes Material, das auch über den Festivalzeitraum hinaus interessant bleibt.

Können Sie den thematischen Schwerpunkt genauer erklären?
Das Festival kreist um drei hoch aufgeladene, brisante Begriffe: Oper, Orient und Aufklärung. Drei Begriffe, die untereinander vielfältig verbunden sind. Mozart hat das in seiner „Entführung aus dem Serail“ vorgemacht. Eine zunächst sehr klischeehafte Anordnung — europäische Frauen in orientalischer Gefangenschaft — verändert sich im Laufe dieser Oper so weit, dass am Ende all diese klischeehaften Ideen unscharf und widersinnig geworden sind. Wir wollen von Mozart ausgehend zeigen, wie verflochten die Kulturräume des Abend- und Morgenlandes sind und wie vielfältig die Übernahmen und Anregungen trotz aller Unterschiede und Konflikte sind. Und das nicht nur aus europäischer Sicht, sondern natürlich auch durch Beiträge aus den benachbarten Kulturregionen. Diese Weite findet sich im digitalen Programm ebenfalls wieder, wenn sie auch in scharfem Kontrast zur gegenwärtigen Enge steht.
  • Internet statt Bühne – „War Sum Up“ von Hotel Pro Forma wird beim Mannheimer Sommer genauso im Stream zu erleben sein (Foto: Marcus Witte) …
  • wie die „Entführung aus dem Serail“, eine Koproduktion des Nationaltheaters mit dem Grand Théâtre de Genève und dem Grand Théâtre Luxembourg (Foto: Carole Parodi) …
  • „Crash Park – das Leben einer Insel“ des französischen Regisseurs Philippe Quesne. (Foto: Martin Agyroglo)
Werden Sie mit neuen Online-Formaten experimentieren?
Wir werden an einigen Stellen tatsächlich auch spezifisch mit dem Medium Internet umgehen. „Norient“ zum Beispiel ist eine hochinteressante Recherche- und Musikvideo-Plattform, mit der wir eigentlich eine Ausstellung über Transformationen des westlichen Orientalismus in Ländern des Orients vereinbart hatten. Diese Ausstellung wird nun in den digitalen Raum zurückwandern, wo es die Möglichkeit gibt, die Ausstellungsinhalte — also Musik, Texte, Kommentare und Überarbeitungen — noch enger zu verzahnen, als das in der Ausstellung möglich gewesen wäre.



„Theater lebt von der gemeinsamen Anwesenheit in einem Raum“


Theater und Festivals leben auch vom Austausch und der Begegnung. Kann man darauf verzichten?
Ganz klar: Nein! Theater ist eine Kunstform, die von der gemeinsamen Anwesenheit in einem Raum lebt. Und gerade die moderneren, experimentelleren Spielarten des Theaters betonen häufig diesen Umstand. Man kann es nicht oft genug sagen: Für den Mannheimer Sommer 2020 hatten wir ein wirklich fulminantes Programm zusammen, das nun nicht mehr stattfinden kann, ein Programm, das gerade auf der Idee der Gemeinschaft von Künstlern und Kunstinteressierten basierte. Aber im Internet bewegen wir uns ja ohnehin anders: flüchtiger, assoziativer, mehr auf Information als auf ganzheitliche Erlebnisse gepolt. Diesem spezifischen Interesse, dieser Rezeptionshaltung wollen wir mit unserem digitalen Festival entgegenkommen. Das Festival soll so vielfältig wie möglich sein, aber auch Lust machen, sich 2022 zur dritten Ausgabe leibhaftig wiederzusehen, gemeinsam zu feiern und die Musik und das Theater hochleben zu lassen. ‹


Das erwartet Sie beim Mannheimer Sommer digital:
› Jeden Abend Streamings von Konzerten, Performances und Musiktheaterstücken auf der digitalen Bühne des Nationaltheaters
› Hintergrundinformationen und -medien zu den eingeladenen Künstlerinnen und Künstlern
› Essays und Beiträge zu den Festivalthemen
Bildnachweis:
Aufmacherbild: „10.000 Gesten“, Inszenierung von Boris Charmatz, Foto: Gianmarco-Bresadola

Mannheimer Sommer

Der Mannheimer Sommer möchte — in Fortsetzung des erfolgreichen „Mannheimer Mozartsommers“ — den Blick noch weiter öffnen möchte auf die Fülle dessen, was die europäische Kultur hervorgebracht hat — und weiterhin hervorbringt! Gastspiele aus dem erweiterten Musiktheaterbereich ergänzen diese große Eigenproduktion: Performance, Tanz, Neue Musik, inszenierte Konzerte. Unterschiedliche Stile sind gefragt: vom klassischen Lied über Weltmusik bis zum Pop kann alles zur Grundlage für neuartige Musiktheaterabende werden.
TerminDO 09. bis SO 19. Juli 2020
AdresseNationaltheater Mannheim // Goetheplatz // 68161 Mannheim //
Kartentelefon: 0621 1680-150 // E-Mail: nationaltheater.kasse@mannheim.de
SpielorteNationaltheater Mannheim & Schloss Schwetzingen
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