› Jazz, das sei kein Stil, sondern eine Art des Musikmachens, hat der Pianist Bill Evans einmal gesagt. Und genau diese spezielle Form des Zusammenwirkens lässt den ja oft totgesagten Jazz aktueller erscheinen denn je. In den letzten Jahren wurde viel über Jazz geschrieben — erstaunlicherweise im Bereich der Wirtschaftsliteratur. In seinem Buch „Yes to the mess“ hat der Managementprofessor Frank Barrett den Jazz zum Vorbild für die Personalführung erklärt. Orchesterleader wie Duke Ellington, so Barrett, hätten über genau die Fertigkeiten verfügt, die Führungskräfte im wirtschaftlichen Umfeld von heute benötigen würden: unbrauchbare alte Muster seien schnell „entlernt“ worden, Fehler habe man als Quelle der Inspiration verstanden und das gemeinsame Herumhängen und das „jamming“ als Spielfeld fürs „learning by doing“ betrachtet. Adrian Cho, Bassist und Leiter eines Jazz-Orchesters ebenso wie Software-Entwickler, hat ein anderes Buch über den „Jazz Process“ geschrieben. Das Zusammenspielen im Jazz, so Cho, sei das Vorbild für Organisationsentwicklung: es gehe dabei um Kollaboration, Innovation und Gewandtheit.
Tatsächlich gibt es keine Art des Musikmachens, die so viel Zusammenarbeit erfordert und in der so viel über Zusammenarbeit nachgedacht wird. Dabei scheint es nicht übertrieben, im Jazz eine fortschreitende Entwicklung in Richtung Demokratie festzustellen. Von den großen Orchestern im Swing zu den Jam Sessions im Bebop, von der Dominanz der Saxofonisten im Hardbop zur zunehmenden Gleichberechtigung der unterschiedlichen Instrumente in Postbop, Jazzrock und Free Jazz, von der Orientierung an Standards zur freien Improvisation, von der Unsichtbarmachung von Instrumentalistinnen zum Erfolg von Musikerinnen wie Anke Helfrich, Mary Halvorson oder Elina Duni. Mit unermüdlicher Energie arbeiten die Jazzschaffenden daran, die Ausdrucksmöglichkeiten für den Einzelnen im Verbund mit anderen zu verbessern. Jazz war stets ein Vehikel für die Emanzipation des Ausdrucks (zumal der Afroamerikaner), nur in schlechtem Jazz dient die Improvisation der egoistischen Beweihräucherung des Selbst. Es geht vielmehr darum, die Position der anderen zu hören und deren (überraschenden) Bewegungen zu folgen oder sie vorwegzunehmen.Ekstase durch AskeseViele der Künstler im Programm von Enjoy Jazz machen nicht nur interessante Musik, sondern erproben zugleich spezifische Modelle von Zusammenleben und -arbeiten. Irène Schweizer etwa entstammt einer Bewegung der europäischen Globalisierung avant la lettre: Um zu überleben, etablierten die europäischen freien Improvisateure eine Art familiäres Netzwerk gegenseitiger Hilfeleistung über nationale Grenzen hinaus. Das wechselnde, aber stetige Zusammenspiel in diesem Verbund ermöglichte die permanente Weiterentwicklung der Musik. Der Pianist Nik Bärtsch knüpft hier an. Seine Projekte stiften eine Struktur zwischen selbstgeführtem Club und wöchentlichen Auftritten — nur so lässt sich die gewünschte „Ekstase durch Askese“ erreichen.Jazz als Forschungsreise Jazz ist aber immer auch ein Instrument der Forschung gewesen, der Forschung nach dem Selbst, der eigenen Geschichte, der Individualität im Kontext von Gesellschaft. Matana Roberts hat zuletzt ein episches, lebendiges musikalisches Museum eines afroamerikanischen Frauenlebens geschaffen. In Europa wiederum haben in den letzten Jahren viele Musiker, zumal solche mit Migrationshintergrund, den musikalischen Kosmos der Folklore als Material entdeckt. Hier gilt, was die Berliner Jazzsängerin Defne Sahin einmal in „Jazz Thing“ gesagt hat: „Jede Volksmusik ist gewissermaßen der Blues des jeweiligen Landes.“ Das kann man hören bei Simin Tander, Ferenc Snétberger, Aziza, Shauli Einav oder auch bei Malakoff Kowalski. Jazz oder „kreative Musik“ ist per se Verhandlung und ermöglicht die Vermittlung unter vielen verschiedenen Stimmen. Und ist es nicht das, was das Glück der Kunst ausmacht? Nicht die Selbstbespiegelung, sondern die ewige, unersättliche Neugier darauf, was die anderen zu sagen haben. ‹Mark Terkessidis ist freier Autor und arbeitet zu den Themen Migration, (Populär-)Kultur und gesellschaftlicher Wandel. Er veröffentlichte u.a. „Interkultur“ (2010) und „Kollaboration“ (2015).
Enjoy Jazz Festival
Seit seiner Premiere 1999 hat sich Enjoy Jazz zu einem international renommierten Festival und zum größten Jazzfestival Deutschlands entwickelt. Neben Legenden wie Ornette Coleman oder Wayne Shorter präsentiert das „Internationale Festival für Jazz und anderes“ immer auch die Größen der jüngeren Jazzgeneration und spannt den Bogen zu angrenzenden Genres wie Weltmusik, Elektronik, Hip-Hop und Klassik. Komplettiert werden die rund 70 Konzerte durch Workshops, Matineen, Partys und Vorträge.
TerminSO 02. Oktober bis FR 11. November 2016
AdresseEnjoy Jazz GmbH // Bergheimer Straße 153 // 69115 Heidelberg // Tel: 06221 5835850 // E-Mail: info@enjoyjazz.de
SpielorteVerschiedene Orte in und rund um Heidelberg, Mannheim und Ludwigshafen
Infoswww.enjoyjazz.de