› Ausschweifende Feste, überschäumendes Lebensgefühl und bebende Kunst — gerade in Zeiten von Social Distancing erscheint uns der Barock und alles, wofür er steht, besonders verheißungsvoll. Und wer einmal unter dem schillernden Kronleuchter im Schwetzinger Rokokotheater gestanden hat, bekommt eine Ahnung von dieser Epoche, ihrem schier zügellosen Prunk, aber auch von ihren großartigen Meisterwerken. Seit 15 Jahren bezieht das Heidelberger Opernensemble in jedem Winter für einige Monate diese opulente Spielstätte und führt Werke alter Musik auf, die zuvor oft in Vergessenheit geraten waren. Aus der Nische ins RampenlichtAuslöser war eine Anfrage der Schwetzinger Schlossverwaltung, ob das Heidelberger Theater das Rokokotheater außerhalb der Saison für Veranstaltungen nutzen möchte. Der damalige Operndirektor Bernd Feuchtner kam auf die Idee, passend zur Anlage, die Kurfürst Carl Theodor als barockes Prunkstück hatte erbauen lassen, ein Barockfestival ins Leben zu rufen — und er lag damit im Trend. Denn das Zeitalter, in dem Vokal- und Instrumentalmusik eine neue Verbindung eingingen, rückte seinerzeit aus seiner Nischenexistenz heraus immer stärker ins Rampenlicht.
Feuchtner konzentrierte sich in den Pionierjahren auf Antonio Vivaldi, der damals fast ausschließlich als Komponist für Concerti grossi und weniger als Verfasser von Opern bekannt war. „Bernd Feuchtner hat sich sehr verdient um die Renaissance von Vivaldi-Opern gemacht“, erinnert Thomas Böckstiegel, der inzwischen gemeinsam mit Ulrike Schumann die Heidelberger Oper sowie das Festival leitet und gerade eine Jubiläumsbroschüre zum 15. Geburtstag des Winters in Schwetzingen verfasst hat. Vivaldis Opern, die neapolitanische Opernschule und deutsche Barockmusik
Dieser Entdeckergeist ist bis heute lebendig geblieben. Mit jedem Wechsel in der Führung des Festivals begann auch eine neue künstlerische Phase. Trieben die Begründer die Wiederentdeckung von Vivaldis Opern voran, wurde mit der Intendanz von Holger Schultze und dem künstlerischen Leiter Heribert Germeshausen der Blick auf die neapolitanische Opernschule gelenkt. Inszenierungen wie „Marco Attilio Regolo“ von Alessandro Scarlatti oder „Giuletta e Romeo“ von Niccolò Antonio Zingarelli fuhren überregionale Erfolge ein. Mit dem Direktionsteam Schumann und Böckstiegel rückte dann die deutsche Barockmusik in den Mittelpunkt. Viel beachtet wurde 2019 ihre Ausgrabung der verschüttgegangenen Oper „Die getreue Alceste“ von Georg Caspar Schürmann. Alte Musik und modernes RegietheaterAnfängliche Zweifel, ob ein kleines Haus wie das Heidelberger Barockopern stemmen könne, zerstreuten die Festivalmacher schnell. Von Beginn an schulten Experten der alten Musik das Orchester in Workshops. Heute ist Ulrike Schumann stolz auf die Entwicklung des Philharmonischen Orchesters: „Wir zeigen, was ein ganz normales deutsches Stadttheater mit einem spezialisierten Wissen machen kann.“ Dabei beweist das Ensemble immer wieder, wie frech sich alte Musik mit modernem Regietheater kombinieren lässt. Die Darsteller*innen tragen Anzüge und Abendkleider, feiern auch mal eine Cocktailparty oder rauchen neumodisch Zigaretten. „Wir haben einen heutigen Blick auf die alten Werke und sehen, dass sich die Menschheit nicht ändert“, resümiert Direktorin Schumann. Im Laufe der 15 Jahre hat sich um das Schwetzinger Festival eine richtige Familie von Freunden der Barockmusik gebildet. Rupert Enticknap zum Beispiel, einer der führenden jungen britischen Countertenöre, hatte hier einen frühen Auftritt und kehrt auch in diesem Jahr ins Rokokotheater zurück. Die bekannte Berliner lautten compagney ist unter Leitung von Wolfgang Katschner ebenfalls wieder mit dabei genauso wie der Heidelberger Bachchor und die Dirigentin Ira Hochman. Ein berührender AbendEinen Höhepunkt bildet bei der 15. Festival-Ausgabe die Musiktheaterproduktion „Was frag ich nach der Welt!“ mit jeweils vier Sänger*innen und Musiker*innen unter der musikalischen Leitung von Clemens Flick, einem Spezialisten für Barockmusik. Das Stück umfasst viele kleine Kantatenausschnitte aus der Frühzeit des deutschen Barock. „Ein berührender Abend, der alle Facetten des Lebens umfasst und sich mit Fragen wie ‚Was bin ich in der Welt?‘ und ‚Was ist mit der Welt, wenn ich nicht mehr da bin?‘ auseinandersetzt“, erläutert Ulrike Schumann, die das Projekt als Dramaturgin begleitet. In die Zukunft blickt das Leitungsteam voller Optimismus. Die Ideen scheinen den beiden nicht auszugehen. „Wir haben noch sehr interessante Stücke auf dem Schreibtisch, die Hunderte von Jahren nicht gespielt wurden“, gibt Böckstiegel einen kleinen Einblick. Titel will er jedoch nicht verraten — wir dürfen gespannt sein. Der Barock bleibt in Schwetzingen auf jeden Fall lebendig. ‹
Winter in Schwetzingen — das Barockfest
06. November 2021 bis 05. Februar 2022
Schwetzinger Schloss
www.theaterheidelberg.de
Winter in Schwetzingen — das Barockfest
06. November 2021 bis 05. Februar 2022
Schwetzinger Schloss
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Bildnachweis:
Susanne Reichardt („Was frag ich nach der Welt!“)Winter in Schwetzingen
Seit mehr als 15 Jahren bietet das Barock-Fest im Rokokotheater des Schwetzinger Schlosses Begegnungen mit Opernraritäten des Barocks. Inzwischen hat das Festival einen festen Platz in der deutschen Kulturlandschaft, immer wieder werden Aufführungen durch die Fachpresse als »Wiederentdeckung des Jahres« gewürdigt. Neben dem zentralen Werk, das in einer Neuinszenierung das Zentrum einer jeden Ausgabe bildet, bieten hochkarätige Konzerte in der kurfürstlichen Sommerresidenz den Rahmen. Mit der künstlerischen Leitung des Direktionsteams Ulrike Schumann und Thomas Böckstiegel widmet sich der Winter in Schwetzingen seit 2019 der Wiederentdeckung der Werke deutscher Barockkomponisten.
TerminSA 06. November 2021 bis SA 05. Februar 2022
AdresseTheater und Orchester Heidelberg // Theaterstraße 10 // 69117 Heidelberg
SpielorteSchloss Schwetzingen