› Alfred Kubin wandelt zeit seines Lebens zwischen Traumwelt und Realität. In seinen Werken versucht er, sich in Wahnsinn und Halluzinationen hineinzuversetzen. Dann, mit 43 Jahren, bricht er tatsächlich zusammen und flüchtet in die Abgeschiedenheit des Privatsanatoriums Alsbach bei Darmstadt. Es ist eine Art Zauberberg, denn in der noblen Villa lässt sich Anfang des 20. Jahrhunderts die intellektuelle und künstlerische Elite kurieren. Unrast und fiebrige Nervosität sind ein Massenphänomen wie hundert Jahre später das Burn-out. Ebenfalls verbreitet ist das Interesse von Künstlern wie Paul Klee oder Max Ernst an der Schaffenskraft von psychisch Kranken, an Werken, wie sie der Psychiater und Kunsthistoriker Hans Prinzhorn nach dem Ersten Weltkrieg in Heidelberg systematisch sammelt. Während von Klee und Ernst nicht bekannt ist, ob sie jemals diesen Bestand begutachtet haben, weiß man, dass Alfred Kubin und sein Alsbacher Nervenarzt am 24. September 1920 nach Heidelberg fahren, um dieses Konvolut in Augenschein zu nehmen. 6.000 Werke hat Prinzhorn mithilfe von Rundbriefen an Anstalten im deutschsprachigen Raum zusammengetragen, gesichtet und inventarisiert.
Wie sehr Kubin das Gesehene in den Bann zieht, schildert der österreichische Expressionist zwei Jahre später in seinem Aufsatz „Die Kunst der Irren“. Er lobt die geniale Begabung eines Schlossers aus Emmendingen, gemeint ist Franz Karl Bühler, erkennt in den ornamentalen Buntstiftzeichnungen von Adolf Wölfli mystische Andeutungen und findet die grelle Buntheit des Sektreisenden August Klett höchst anregend. Die Ausstellung „Geistesfrische — Alfred Kubin und die Sammlung Prinzhorn“ präsentiert nun rund 100 Exponate, darunter auch die Werke jener 13 Künstler, die Kubin in seinem Bericht für die Zeitschrift „Kunstblatt“ erwähnt. Obwohl der prominente Besucher die Namen der Künstler nicht explizit erwähnt, war die Zuordnung durch die Angabe des Berufs sowie Stil- und Werkbeschreibungen möglich. Blätter des WahnsinnsDie Auswahl der Werke orientiert sich an Kubins Darstellung, geht aber weit darüber hinaus und eröffnet einen umfassenden Blick auf die Œuvres dieser Künstler. Außerdem zeigt das Museum einige von Kubins grafischen Blättern, die das Thema „Wahnsinn“ behandeln, zum Beispiel „Der wahnsinnige van Gogh“. Mit nervösen Tuschestrichen hat der Künstler 1910 einen massigen Kopf herausgearbeitet, der dem des Freiherrn von Wächter-Lautenbach, abgebildet auf einem Aquarell von August Klett, erstaunlich ähnelt. Immer wieder stößt der Ausstellungsbesucher auf frappierende Parallelen. In düsteren Tönen malt Kubin 1905 etwa einen drohenden Zusammenstoß von Planeten. Das gleiche Motiv findet sich auch bei Oskar Herzberg in der „Erklärung über den Erduntergang“ von 1912. „Herzbergs Motivwahl könnte damit zusammenhängen, dass 1910 zwei große Kometen auftauchten, die Panik und Hysterie auslösten“, vermutet Dr. Ingrid von Beyme, Kuratorin der Sammlung Prinzhorn. Kubin erinnern Herzbergs kleine Gemälde, deren Farben in dichter Paste aufgestrichen sind, zum Teil an Paul Klee. „Sie hätten ihn gewiss interessiert“, schreibt er.
Der Dandy ist von der Sammlung so hingerissen, dass er einen Tausch vorschlägt, eine besondere Anerkennung der Künstler der Heidelberger Sammlung. Kubin bekommt vier Werke von Bühler und ein Aquarell von Klett, dafür übergibt er Prinzhorn sein Temperagemälde „Drohender Zusammenstoß“ und vier Arbeiten aus seinem Besitz — eine Irrendarstellung von Max Mayrshofer sowie drei anonyme Blätter aus der Anstalt Eglfing bei München. Auch sie werden gezeigt. Kubin und seine Wertschätzung der Heidelberger Künstler sind bereits 2013 Thema einer Ausstellung des Landesmuseums Linz gewesen. „In Heidelberg“, betont von Beyme, „liegt der Fokus stärker auf den Werken aus unserer Sammlung.“ Inhaltlich knüpft die Ausstellung an die kürzlich gezeigte Schau „Dubuffets Liste“ an. Der Begründer der Art Brut hat sich die Heidelberger Anstaltskunst 1950 angesehen. Einige Werke beurteilt er völlig anders. Kubins Liebling Bühler etwa tut Jean Dubuffet als mittelmäßig ab, während er Paul Goesch bewundert. Über diesen wiederum schreibt Kubin: „Der uninteressanteste von allen mit der unangenehmen technischen ‚Ausbildung‘.“ Zwei Experten, zwei Meinungen — über Kunst lässt sich eben trefflich streiten. ‹
Geistesfrische — Alfred Kubin und die Sammlung Prinzhorn
02. März bis 30. Juli 2017
Museum Sammlung Prinzhorn, Heidelberg
Dienstag bis Sonntag 11–17, Mittwoch 11–20 Uhr
www.sammlung-prinzhorn.de
Geistesfrische — Alfred Kubin und die Sammlung Prinzhorn
02. März bis 30. Juli 2017
Museum Sammlung Prinzhorn, Heidelberg
Dienstag bis Sonntag 11–17, Mittwoch 11–20 Uhr
www.sammlung-prinzhorn.de
Sammlung Prinzhorn
Die Sammlung Prinzhorn ist ein Museum für Kunst von Menschen mit psychischen Ausnahme-Erfahrungen. Ihr bekannter historischer Bestand umfasst rund 6.000 Zeichnungen, Aquarelle, Gemälde, Skulpturen, Textilien und Texte, die Insassen psychiatrischer Anstalten zwischen 1840 und 1945 geschaffen haben. Dieser weltweit einzigartige Fundus wurde zum größten Teil von dem Kunsthistoriker und Psychiater Hans Prinzhorn (1886–1933) während seiner Zeit als Assistenzarzt an der Psychiatrischen Klinik der Universität Heidelberg zusammengetragen. Seit 1980 wächst die Sammlung weiter (der neuere Bestand umfasst ca. 16.000 Werke). Das Museum zeigt jährlich drei bis vier thematische Ausstellungen und möchte damit zur Entstigmatisierung psychischer Erkrankung beitragen. Als Teil des Universitätsklinikums Heidelberg ist das Haus auch eine wissenschaftliche Einrichtung, die das Schicksal der Künstler und Künstlerinnen, ihre Werke und übergeordnete Fragestellungen erforscht. Zu den bekanntesten KünstlerInnen der Sammlung zählen Harald Bender, Else Blankenhorn, Franz Karl Bühler, Paul Goesch, Emma Hauck, August Natterer und Adolf Wölfli.
TerminDO 02. März bis DO 20. April 2017
AdresseSammlung Prinzhorn
// Klinik für Allgemeine Psychiatrie // Universitätsklinik Heidelberg
// Voßstraße 2
// 69115 Heidelberg
// Besucherinformation: 06221 / 56-47 39 // E-Mail: prinzhorn@uni-heidelberg.de
ÖffnungszeitenDienstag bis Sonntag 11–17 Uhr, Mittwoch 11–20 Uhr, an geöffneten Feiertagen bis 17 Uhr
In den Umbauzeiten zwischen den Ausstellungen ist das Museum geschlossen!