Nibelungen-Festspiele

„Sigurd und Brynhild haben nicht nur ein kurzes Techtelmechtel“

› Frau Milisavljević, Sie beziehen sich in „Brynhild“ auf die Mythen des Nibelungenliedes und auf nordische Sagen.
Was fasziniert Sie daran?

Genau, ich beziehe mich auf die Liederedda, aber auch die Völsunga Saga. Beide entstanden, wie das Nibelungenlied, im 13. Jahrhundert beziehungsweise wurden zu diesem Zeitpunkt erstmalig niedergeschrieben — aber eben an sehr unterschiedlichen Orten. Vorher waren es Gesänge und Legenden, die man sich erzählte. Das Spannende ist, dass all diese Texte ähnliche, aber eben nicht deckungsgleiche Geschichten erzählen. Ich frage mich, welchen Stellenwert sie für die Gesellschaft, aber auch die Sehnsüchte und Lebensweisen der Menschen gehabt haben.

Männliche Heroen, wie sie dort beschrieben werden, passen eigentlich nicht mehr in die moderne Welt. Männer dürfen heute auch mal weinen und gehen in Elternzeit. Ist Sigurd in Ihrem Stück anders, als wir ihn aus dem Epos kennen?
Sigurd ist genauso, wie wir ihn kennen. Nur er erlebt etwas mehr, als im Nibelungenlied und der Liederedda niedergeschrieben ist. Liest man die Völsunga Saga, fällt auf, dass ganze Kapitel zwischen der ersten Begegnung Sigurds und Brynhilds und der erneuten Erwähnung Brynhilds — dann schon in Worms — liegen. Beide versprechen sich einander, Brynhild zieht in den Krieg, Sigurd wartet auf sie, sie heiraten, werden Eltern. Kapitel, die, wie die Wissenschaft glaubt, aus der Edda herausgerissen wurden. Die Frage ist also nicht, braucht es einen neuen Sigurd, sondern, warum findet der Familienvater keine Erwähnung in Edda und Nibelungenlied.

Ist die Beziehung zwischen Sigurd und Brynhild toxisch?
Nein, die Beziehung der beiden ist sehr liebevoll. Sie haben Respekt und Verständnis füreinander. Beide leben entlang Erwartungen von außen, sei es das heldenhafte Drachentöter-Dasein oder das Leben als kriegsverliebte Walküre. Diesen Rahmen können beide gemeinsam sprengen. Sie entscheiden sich für ein Leben abseits von Töten und Krieg. Zumindest versuchen sie dies.

In welcher Weise?
Wie schon oben gesagt, passieren hier die Dinge, die aus der Liederedda gerissen wurden und es gar nicht erst in das Nibelungenlied schafften: die Liebe zwischen Brynhild und Sigurd, die nicht nur ein kurzes Techtelmechtel war, ihre Entscheidung, Eltern zu werden, obwohl sie in einer Welt aus Krieg und Blutvergießen leben, der Lauf der Geschichte (den wir alle kennen), der etwas anderes für sie vorsieht, und letztendlich die Intrigen und Geheimnisse, die auch Teil dieser Geschichte sind und sie zur Tragödie machen.

Frau Karabulut, was gefällt Ihnen an „Brynhild“ von Maria Milisavljević?
Mir gefällt, wie Maria mit den alten Rollenklischees und Heldengeschichten bricht. Aus dem Verhältnis von Sigurd und Brynhild entwickelt sie eine echte Liebesbeziehung und Partnerschaft. Gemeinsam rebellieren sie gegen die Erwartungen von außen, wie sie zu sein und was sie zu tun haben.
  • nibelungen festspiele worms dom
    Prächtige Kulisse – der Wormser Dom ist auch dieses Jahr wieder Schauplatz der Festspiele.
Was ist das Besondere, ein Open-Air-Stück zu inszenieren?
Im Sommer 2021 habe ich open air die Oper GREEK von Turnage an der Deutschen Oper Berlin inszeniert. Es war eine tolle, unmittelbare Erfahrung, so zu arbeiten. Unter freiem Himmel musst du andere Fantasien und andere Bilder als in einem dunklen Guckkastentheater erfinden, darauf freue ich mich.

Und Sie, Frau Milisavljević, hatten Sie, als Sie das Stück geschrieben haben, das Setting in Worms mit der Open-Air-Bühne vor dem Dom im Kopf oder spielen solche Kriterien beim Schreibprozess keine Rolle?
Oh, doch, das Setting in Worms spielt eine große Rolle, sowohl für den Inhalt als auch für die Form. Denn hier ist alles möglich. Szenen dürfen groß sein, genauso wie Gefühle und Bilder. Das macht großen Spaß beim Schreiben!

Frau Karabulut, zum ersten Mal sind in Worms sowohl Text als auch Regie in weiblicher Hand. Wird das etwas am Charakter der Nibelungen-Festspiele ändern?
Ich selbst bezeichne mich als praktizierende Feministin: Wir müssen über Feminismus sprechen, aber ganz wichtig ist es auch, feministisch zu handeln. Mit Ausnahme von Daniel Murena, der für die Musik zuständig ist, besteht das Regieteam nur aus Frauen. Die langjährige Zusammenarbeit mit Bühnenbildnerin Michela Flück, Kostümbildnerin Teresa Vergho und Video-Künstlerin Susanne Steinmassl wird auch in Worms zu einer klar feministischen Inszenierung führen, die unsere Lebensrealitäten in Frage stellen wird. ‹

Nibelungen-Festspiele
07. bis 23. Juli 2023
Wormser Dom
www.nibelungenfestspiele.de
Bildnachweis:
Kati Nowicki (Milisavljević/Karabulut); Bernward Bertram (Dom)

Nibelungen-Festspiele

Seit 2002 finden die Nibelungen-Festspiele jährlich im Sommer als Open-Air-Theaterereignis vor dem Dom statt. Die Festspiele erreichen jährlich ein großes Publikum und bescheren der Stadt am Rhein eine hohe Aufmerksamkeit. Aber nicht nur die Aufführungen vor der Domkulisse machen die Festspiele zu einem einmaligen Kulturereignis: Auch das hochwertige Rahmenprogramm sowie der Heylshofpark, der zu Deutschlands schönsten Theaterfoyers zählt, lockt jedes Mal zahlreiche Besucher.
TerminFR 07. bis SO 23. Juli 2023
AdresseNibelungen-Festspiele Worms // Von-Steuben-Straße 5 // 67549 Worms
SpielorteKaiserdom, Worms
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