› Wer sich zum Start des Heidelberger Stückemarktes einen klassischen Theaterabend mit einer auf einen Höhepunkt zusteuernden Handlung und konkreten Charakteren erhofft, wird bei der Uraufführung von „2x241 Titel doppelt so gut wie Martin Kippenberger“ vermutlich enttäuscht. Die Frankfurter Hauptschule, eine 20-köpfige Kunstaktionsgruppe, die in und rund um die Städelschule gegründet wurde, verzichtet in ihrem Text auf eine Dramaturgie im herkömmlichen Sinn und auch auf Figuren. „Die Blumen des Blöden“Das Stück ist eine Titelliste, eine Tabelle mit zwei Spalten — in der einen der Text, der gesprochen wird, und in der anderen Statements und Kommentare zum Projizieren. Zitiert oder semantisch umbesetzt werden Titel von Büchern und Kunstwerken, Versatzstücke aus bekannten Dramen, steile Thesen und Stammtischmeinungen, aber auch frei erfundener Nonsens ist dabei. Gleich am Anfang heißt es zum Beispiel „Stalingrad, ein Wintermärchen“ oder in Anlehnung an Baudelaires Skandal-Gedichtband „Die Blumen des Bösen“ parodistisch „Die Blumen des Blöden“ und ebenfalls: „Wenn man die Bibel vorwärts liest, kann man satanische Botschaften hören.“Aus den so gesampelten Aussagen ergibt sich ein böse funkelndes Gesellschaftskaleidoskop. Nach Auskunft der Frankfurter Hauptschule hat die Gruppe über einen Zeitraum von sechs Jahren nebenbei Titel gesammelt. Danach hat sie alles in Schnipseln im Atelier verteilt und herumprobiert. Die Fragen, die sie sich dabei stellten: In welcher Abfolge ergeben sich interessante Dialoge der Titel untereinander? Was für eine Dramaturgie bietet sich an? Wo sollen sich Titel in Themenblöcke ballen und wo soll es sich zufälliger anfühlen? Wo können wir unser eigenes System der Titelliste brechen?
Die insgesamt 482 Titel lassen sich zu Themenclustern wie Rechtsruck, Sexismus, Rassismus und Antisemitismus verdichten. „Das geschieht in einer sehr fragmentarischen Form, in der man auch die Rolle der Sprache hinterfragen kann“, sagt Dramaturg Paul Berg. Die Statements haben oft den Charakter von Memes oder Tweets. Ursprünglich bezieht sich der Text, wie der Titel besagt, auf ein Projekt von Martin Kippenberger. Der 1997 verstorbene Maler, Installations- und Performancekünstler veröffentlichte 1986 einen schmalen Band. Darin schlägt er Titel für Kunstwerke vor, die sich Künstler*innen ausleihen können. „Es gibt nur noch 500 Exemplare davon, die heute hoch gehandelt werden. Man zahlt fast 1.000 Euro“, versichert Berg. Guerilla-Kunst und ProtestaktionenAuch die Frankfurter Hauptschule, die an der Universität der Künste in Berlin lehrt, will provozieren und dorthin zielen, wo es wehtut. Eines ihrer bekanntesten Projekte ist eine Guerilla-Aktion im Jahr 2020: Drei maskierte Mitglieder der Gruppe stahlen vermeintlich die berühmte „Capri-Batterie“ von Joseph Beuys, eine Plastik, bestehend aus einer Zitrone und einer gelben Glühbirne, aus einer Ausstellung in Oberhausen und verschleppten sie nach Tansania. Der angebliche Kunstraub wurde in einem fröhlichen Road-Movie dokumentiert und sorgte für Empörung. Erst später stellte sich heraus, dass die Installation, die das Kollektiv außer Landes gebracht und einem ethnologischen Museum in Tansania geschenkt hatte, eine Fälschung war. Der fingierte Diebstahl war eine Dekolonialsierungs-Protestaktion, um auf die zögerliche Rückgabe von geraubten Schädeln und Gebeinen von Menschen des Hehe-Volkes aufmerksam zu machen. Bühne, Kostüme, Musik und VideosZurück nach Heidelberg: Dort inszeniert FX Mayr, für den es nach dem Regiestudium in Zürich schnell voranging, das Stück. Der Österreicher wird von vielen großen Theatern engagiert und war als bester Nachwuchsregisseur für den Nestroy-Preis nominiert. „2x241 Titel doppelt so gut wie Martin Kippenberger“ bringt er mit vier Performer*innen auf die Bühne. Um die Spannung hochzuhalten, werden, so Dramaturg Berg, Bühne, Kostüme, Musik und Videos als Komplizinnen des Abends begriffen. Polarisiert hat dieser Wettbewerbsbeitrag im vergangenen Jahr auch die Stückemarkt-Jury. Dennoch zeichnete sie die Frankfurter Hauptschule zusammen mit Arad Dabiri und seinem Stück „DRUCK!“ mit dem Autor*innenpreis aus. „‚2x241 Titel doppelt so gut wie Martin Kippenberger‘ hat einen lebhaften Austausch über Dramatik, Situationen, Komik, Grenzen und Textverständnis ausgelöst“, erinnert sich Berg. „Der Text ist ein bisschen wie Pappe, die von hinten angestrahlt wird und durch die jemand eine Nadel sticht. Es kommt ein bisschen Licht heraus, aber dann
hört es auch damit auf.“ Wir sind gespannt, was dabei durchschimmern wird. ‹
Heidelberger Stückemarkt
25. April bis 04. Mai 2025
Marguerre- und Alter Saal sowie Zwinger, Heidelberg
www.theaterheidelberg.de
hört es auch damit auf.“ Wir sind gespannt, was dabei durchschimmern wird. ‹
Heidelberger Stückemarkt
25. April bis 04. Mai 2025
Marguerre- und Alter Saal sowie Zwinger, Heidelberg
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Bildnachweis:
© Frankfurter HauptschuleHeidelberger Stückemarkt
Neben spannenden Produktionen aus einem Gastland Litauen bietet der Heidelberger Stückemarkt aktuelle Inszenierungen aus dem gesamten deutschsprachigen Raum. Eine große Bandbreite an künstlerischen Handschriften, die das zeitgenössische Theater prägen. Neue, noch nicht aufgeführte Theaterstücke, gelesen von Schauspielern des Theaters Heidelberg. Theaterautoren von morgen im Wettbewerb um den Autorenpreis. Künstlergespräche, Publikumsdiskussionen und Partys.
TerminFR 25. April bis SO 04. Mai 2025
AdresseTheater und Orchester Heidelberg // Theaterstraße 10 // 69117 Heidelberg
SpielorteTheater und Orchester Heidelberg
Ticketsheidelberg.de