Internationales Straßentheaterfestival

Töchter und Söhne des Ostens

› Seit über zwanzig Jahren gibt es das Internationale Straßentheaterfestival schon in Ludwigshafen. Wenn es in diesem Sommer nach zwei Jahren Pandemie-Pause wieder losgeht, Theater an öffentlichen Plätzen wieder Menschen zusammenbringt, wird es nicht nur deswegen ein besonderes Festival werden. „Wir orientieren uns mit dem Programm am Motto des Kultursommers Rheinland-Pfalz ‚Kompass Europa: Ostwind‘, was natürlich angesichts des Krieges in der Ukraine noch einmal eine besondere Brisanz erfährt“, erklärt Monika Schill, künstlerische Leiterin des Festivals. Leichtigkeit und Spielfreude, aber auch politische und feministische Positionen werden das Festival prägen und spiegeln sich in der Auswahl der Gruppen wider.

Drei Frauen auf Rollschuhen

Das Tangaj Collective kommt aus Rumänien. Mit der Gruppe um die Choreografin Simona Deaconescu ist es gelungen, eine ungewöhnliche Performance nach Ludwigshafen zu holen. In „Daughters“ sind drei Frauen auf Rollschuhen unterwegs, drei Töchter einer verwirrten Generation: Untermalt von düsterer elektronischer Musik des ukrainischen Komponisten Monocube und halluzinatorischen Videosequenzen der deutschen Künstlerin M. Kardinal steht der weibliche Körper im Fokus, der gefangen ist zwischen Freiheit und Macht und den Prägungen durch die Erfahrungen vorangegangener Generationen von Müttern und Großmüttern. Dies alles passiert unter vollstem Körpereinsatz — inklusive wildem Headbanging.

Dass es sich bei dem Tangaj Collective um ein Ensemble mit rein weiblicher Besetzung handelt, ist kein Zufall, erklärt Monika Schill. Zusammen mit ihrer Kollegin Jaqueline Mellein, die für die Produktion zuständig ist, hat sie sich ganz bewusst auf die Suche nach spannenden weiblichen Positionen gemacht: „Uns ist es wichtig, das Festival zum einen international diverser zu machen und uns nicht nur auf westeuropäische Produktionen zu konzentrieren und zum anderen auch eine Ausgeglichenheit zwischen weiblichen und männlichen Künstlerinnen und Künstlern zu schaffen. Denn gerade im Straßentheater sind die Frauen stark unterrepräsentiert.“
  • Zwei alte Frauen? – Im Stück „Jamais en retraite“ turnen die Protagonistinnen gegen das Altsein und Stereotype an.(Foto: Anthony Krizmanic)
  • Pyrotechnik, Livemusik, Konfettiregen im Stück "Sons of Musitron" der Muzi­kanty aus Polen wird die Freiheit nach dem Pandemiekater gefeiert. (Foto: MBuksa)
  • Die polnische Truppe ist doppelt beim Festival zu erleben: In „Tank“ versuchen zwei Männer auf einem Kurztrip mit dem Wohnmobil mit Hilfe des Publikums ein ­gewichtiges Problem zu lösen – das Bier ist ihnen ausgegangen.
  • Runde Sache – Die französische Compagnie Dyptik eröffnet das Straßentheater­festival mit ihrer 360°-Performance
    „Mirage“ . (Foto: CieDyptik)
Auch die Compagnie ZANIA aus Frankreich ist deshalb nicht zufällig ein weibliches Duo. Die zwei Artistinnen Gioia Zanaboni und Anja Eberhart schlüpfen in dem Stück „Jamais en retraite“ (Nie im Ruhestand) in die Rolle zweier älterer Damen. Laut Künstlerinnen handele es sich bei ihren Figuren um zwei weibliche Don Quijotes der Gegenwart, die gegen die Windmühlen des Alterns kämpfen und sich dagegen wehren, als altes Eisen abgestempelt zu werden. Auf Kunstrad und Slackline wird die tragikomische Geschichte einer starken Freundschaft erzählt. Die Zuschauer*innen werden dabei auf eine poetische und humorvolle Reise in das Alltagsleben der betagten Protagonistinnen Carla und Maria mitgenommen. Die Grenzen zwischen zirkushaftem Spekatel und Performance sind dabei fließend.

Kurztrip mit dem Wohnmobil

Ebenso spektakulär wird es beim Auftritt der Muzikanty aus Polen, die gleich mit zwei Stücken beim Festival zu erleben sind. In „Tank“ versuchen zwei Männer auf einem Kurztrip mit dem Wohnmobil mit Hilfe des Publikums ein gewichtiges Problem zu lösen — das Bier ist ihnen ausgegangen. Ebenso humorvoll wird es auch im Stück „Sons of Musitron“ zugehen, laut eigener Aussage laden sie hier ein zur „retro-futuristischen, phantasmagorischen, quadrophonischen, wandernden Musikkarawane“. Mit Pyrotechnik, Livemusik, Konfettiregen wird die Freiheit nach dem Pandemiekater gefeiert.

Die Pandemie zeichnet jedoch auch noch diese Festivalausgabe. Corona geschuldet gibt es in diesem Jahr eine Beschränkung des Festivals auf vier feste Spielorte in der Stadt — namentlich Europaplatz, Platz der Deutschen Einheit, Bürgerhof und Karl-Kornmann-Platz –, da hier die Besucher*innenzahl gegebenenfalls begrenzt und kontrolliert werden kann. 14 Gruppen werden ihre Produktionen präsentieren, hinzu kommen weitere Veranstaltungen im neu eingerichteten Festivalzentrum vor dem Kulturzentrum dasHaus: „An allen Festivaltagen möchten wir hier zum Zusammenkommen bei Konzerten und Shows einladen“, erklärt Monika Schill.

Inspirationen aus dem Flüchtlingslager

Die Eröffnung findet indes auf dem Europaplatz statt, auf dem für die französische Produktion „Mirage“ der Compagnie Dyptik ein ganz besonderer Aufbau stattfindet. Bei der 360°-Tanzperformance ist das Publikum eingeladen, in einen runden und akustischen Raum mit Lautsprechern zu kommen. Die Zuschauer*innen teilen sich diesen Raum mit acht Tänzer*innen und können sich dort frei bewegen; eine klassische Bühne gibt es nicht und es ist möglich, von Szene zu Szene zu springen. Das Stück nimmt mit an einen Ort, der im ersten Moment düster klingt, in das Lager Balata im Westjordanland. Eben dort hat die Gruppe ihre Inspiration für das Stück gefunden: „Auf unseren zahlreichen Reisen haben wir eine Kreativität entdeckt, die ihre Kraft aus der rauesten, aber auch reinsten Quelle schöpft. Dies war besonders bedeutsam im Flüchtlingslager Balata, wo Kinder für uns getanzt haben.“

Neue Verbindungen zwischen Farben, Liedern, Rhyth-men und Emotionen, traditionellen, mündlichen und zeitgenössischen Musikkulturen, denen man auf der ganzen Welt begegnet, werden in „Mirage“ gefeiert und laden das Publikum dazu ein, in dieses Theatererlebnis einzutauchen. „Das Stück passt wunderbar zur Eröffnung“, freut sich Monika Schill, „denn es fasst ganz gut das zusammen, was wir mit dem Straßentheaterfestival bieten möchten — ein künstlerisch und ästhetisch anspruchsvolles Programm, das dennoch für alle zugänglich ist und Spaß macht.“ ‹


Internationales Straßentheaterfestival Ludwigshafen
29. bis 31. Juli 2022
Europaplatz, Platz der Deutschen Einheit, Bürgerhof und Karl-Kornmann-Platz, Ludwigshafen
www.ludwigshafen.de/lebenswert/kulturbuero
Bildnachweis:
Ionut Rusu (Aufmacher)

Internationales Straßentheater­festival Ludwigshafen

Das Straßentheaterfestival präsentiert jeden Sommer spektakuläres Open-Air-Theater aus ganz Europa und teilweise aus Übersee. An zwei Tagen und drei Abenden können die Zuschauer an verschiedenen Orten in der Ludwigshafener City hautnah die Vielfalt des Theaters unter freiem Himmel erleben. Das Spektrum reicht vom fantasievollen Walk-Act über Musik-, Tanz- und Figurentheater bis hin zur aufwendigen Platzinszenierung.
TerminFR 29. bis SO 31. Juli 2022
AdresseStadt Ludwigshafen – Kulturbüro // Bahnhofstraße 30 // 67059 Ludwigshafen // Telefon: 0621 504-2263 // E-Mail: kulturbuero@ludwigshafen.de
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