Wahrscheinlich braucht es einen wie Simon Mayer, um die braunen Flecken der Vergangenheit aus den Lederhosen des alpinen Brauchtums zu waschen. Einen Bauernburschen aus dem oberösterreichischen Andorf, der als Kind mit der Familie auf dem heimischen Hof musizierte und nunmehr als gefeierter Choreograf zwischen Brüssel und Wien pendelt. Einen heimatverbundenen Kosmopoliten, der heute mit seinen Produktionen das globale Kulturbürgertum verzückt und morgen mit der gleichen Volkstanzgruppe probt, der er schon seit Kindestagen angehört. Wenn einer also weiß, dass Heimat auch ohne Grenzen gedacht werden kann, dann ist es Simon Mayer. Der 34-Jährige hat eine glänzende Karriere hingelegt. An der Schule des Wiener Staatsopernballetts hat er studiert und war dort später auch Teil des Ensembles. Einen entscheidenden Teil seiner Ausbildung verbrachte er zudem an der Brüsseler Tanzakademie P.A.R.T.S. der einflussreichen belgischen Choreografin Anna Teresa de Keersmaeker. Mittlerweile sind seine Stücke auf der ganzen Welt zu sehen, 2017 erhielt er für sein Werk den „outstanding artist award“ des österreichischen Bundeskanzleramts. Er weiß natürlich auch um die Geschichte des Volkstanzes und um seine Instrumentalisierung in der Zeit des Nationalsozialismus — schließlich hat er sich intensiv mit der Forschung zu diesem Thema auseinandergesetzt. Aber er sagt: „Diese Einengung auf eine bestimmte Region als identitätsstiftendes Moment ist ein total künstliches Konstrukt. Kulturtechniken wie Jodeln oder Schuhplatteln gibt es in ähnlichen Formen auf der ganzen Welt. Genau genommen gibt es so etwas wie österreichisches Brauchtum nicht einmal: Krümmt man den Rücken ein bisschen beim Schuhplatteln und schlägt dabei auf die Unter- statt auf die Oberschenkel, ist man sofort beim Gumbootsdance aus Südafrika und Simbabwe.“Eine radikal andere Idee des Volkstanzes
In seinen Produktionen bietet er deshalb eine radikal andere Idee des Volkstanzes an. Inklusiv statt exklusiv soll diese sein, global statt regional, universell statt spezifisch: Eine ritualistische Praxis der Selbstermächtigung, die starre Konventionen sprengt, statt sie zu festigen. „Ich glaube, Volkstanz und Musik haben das Potenzial, eine freie Spiritualität ohne Dogmen zu entwickeln“, sagt Mayer. Was er damit meint, wird in „Sons of Sissy“ deutlich, dem Stück, mit dem er im Juli auch beim Festival in Ludwigshafen gastieren wird. Und dort sind Mayer und seine drei Mitstreiter Matteo Haitzmann, Patric Redl und Manuel Wagner genau richtig, verfolgt das Festival doch in seiner ganzen Ausrichtung den Anspruch, Straßentheater in einen politischen und gesellschaftlichen Kontext zu stellen. Zu erleben sein wird eine schräge Mischung aus Volksmusikquartett und experimenteller Tanzgruppe. Da wird andächtig gefiedelt, stramm marschiert und splitternackt Schuhplattler getanzt, bis die Oberschenkel glühen.
Die Nacktheit ist für den Choreografen aber viel mehr als nur reine Provokation. „Darum geht es eigentlich gar nicht“, sagt er. „Aber jede Form von Tracht hätte schon wieder eine Einengung bedeutet, sowohl körperlich als auch kulturell. Die Nacktheit ist damit so etwas wie unsere universelle Tracht.“ Überzeugend wirkt das bei „Sons of Sissy“ vor allem deshalb, weil Mayer trotz aller Konzepttreue nie den Humor vergisst. Und wenn sich die kernigen Burschen anschließend zärtlich durch den Vollbart streichen, dekonstruieren „Sons of Sissy“ nebenbei auch noch ganz spielerisch die in der Volksmusik vorherrschende Machokultur. „Es geht nicht darum, Männlichkeit pauschal als negativ abzustempeln, sondern darum, als Mann auch seine weibliche Seite als Qualität zu akzeptieren“, erläutert er. „Wir bewegen uns da in farbenfrohen Grauzonen jenseits aller Labels.“Fünf Nationen, ein Gesangsverein
Ebenfalls ohne Berührungsängste ist der „Männergesangsverein (MGV) Walhalla zum Seidlwirt“ in den Gefilden des Volkslieds unterwegs. Dahinter steckt allerdings kein Zufall. Gründer des Berliner Vokalquintetts, das sich aus Absolventen der renommierten Musikhochschule Hanns Eisler zusammensetzt, ist Simon Mayers Bruder Philipp. „Zwar ist unsere Gruppe zuallererst aus dem Spaß am gemeinsamen Singen entstanden, aber natürlich sind wir durchaus auch politisch“, sagt Walhalla-Tenor Julian Twarowsk. „Es geht vor allem darum, das Volkslied nicht den falschen Leuten zu überlassen.“ Die fünf Sänger kommen aus fünf Nationen und genauso vielfältig ist auch das Programm, mit dem sie auf dem Ludwigshafener Theaterplatz zu sehen sein werden. Ob charmant inszenierte Volkslieder oder amerikanische Songs, es ist vor allem die ungezwungene Herangehensweise an volkstümliches Liedgut aus den unterschiedlichsten Ländern, mit der die fünf Herren des MGV einem Heimatbegriff der Grenzen und Mauern eine klare Absage erteilen. „Wir sind nicht missionarisch oder dogmatisch tätig“, sagt Twaroswki. „Wir wollen die Leute mit der Musik berühren, das andere kommt dann ganz von alleine.“Bleibt die Frage: Welche Kraft hat die Kunst in Zeiten erstarkender Nationalismen? Simon Mayer jedenfalls hat sein Stück „Sons of Sissy” bereits auf dem heimischen Bauernhof in der kleinen Gemeinde Andorf aufgeführt. Und das vor einem durchaus nicht einfachen Publikum: Unter anderem seine eigene Großmutter und mehrere örtliche Brauchtumsgruppen wollten sehen, was der ehemalige Junge aus dem Dorf heute so treibt. „Die meisten Zuschauer waren begeistert und haben mir erzählt, dass sie unbedingt auch einmal nackt schuhplatteln wollen“, erinnert er sich und kann sich ein
Lachen nicht verkneifen. Man darf also festhalten: Daheim in Ober- österreich hat Mayer seine Mission schon einmal erfüllt. ‹Sons of Sissy, 26. & 27. Juli, jeweils 22 Uhr, und 28. Juli, 18 Uhr, Theaterplatz LudwigshafenMGV Walhalla zum Seidlwirt, 26. & 27. Juli, jeweils 20.30 Uhr, und 28. Juli, 16.30 Uhr, Theaterplatz Ludwigshafen
In seinen Produktionen bietet er deshalb eine radikal andere Idee des Volkstanzes an. Inklusiv statt exklusiv soll diese sein, global statt regional, universell statt spezifisch: Eine ritualistische Praxis der Selbstermächtigung, die starre Konventionen sprengt, statt sie zu festigen. „Ich glaube, Volkstanz und Musik haben das Potenzial, eine freie Spiritualität ohne Dogmen zu entwickeln“, sagt Mayer. Was er damit meint, wird in „Sons of Sissy“ deutlich, dem Stück, mit dem er im Juli auch beim Festival in Ludwigshafen gastieren wird. Und dort sind Mayer und seine drei Mitstreiter Matteo Haitzmann, Patric Redl und Manuel Wagner genau richtig, verfolgt das Festival doch in seiner ganzen Ausrichtung den Anspruch, Straßentheater in einen politischen und gesellschaftlichen Kontext zu stellen. Zu erleben sein wird eine schräge Mischung aus Volksmusikquartett und experimenteller Tanzgruppe. Da wird andächtig gefiedelt, stramm marschiert und splitternackt Schuhplattler getanzt, bis die Oberschenkel glühen.
Ebenfalls ohne Berührungsängste ist der „Männergesangsverein (MGV) Walhalla zum Seidlwirt“ in den Gefilden des Volkslieds unterwegs. Dahinter steckt allerdings kein Zufall. Gründer des Berliner Vokalquintetts, das sich aus Absolventen der renommierten Musikhochschule Hanns Eisler zusammensetzt, ist Simon Mayers Bruder Philipp. „Zwar ist unsere Gruppe zuallererst aus dem Spaß am gemeinsamen Singen entstanden, aber natürlich sind wir durchaus auch politisch“, sagt Walhalla-Tenor Julian Twarowsk. „Es geht vor allem darum, das Volkslied nicht den falschen Leuten zu überlassen.“ Die fünf Sänger kommen aus fünf Nationen und genauso vielfältig ist auch das Programm, mit dem sie auf dem Ludwigshafener Theaterplatz zu sehen sein werden. Ob charmant inszenierte Volkslieder oder amerikanische Songs, es ist vor allem die ungezwungene Herangehensweise an volkstümliches Liedgut aus den unterschiedlichsten Ländern, mit der die fünf Herren des MGV einem Heimatbegriff der Grenzen und Mauern eine klare Absage erteilen. „Wir sind nicht missionarisch oder dogmatisch tätig“, sagt Twaroswki. „Wir wollen die Leute mit der Musik berühren, das andere kommt dann ganz von alleine.“Bleibt die Frage: Welche Kraft hat die Kunst in Zeiten erstarkender Nationalismen? Simon Mayer jedenfalls hat sein Stück „Sons of Sissy” bereits auf dem heimischen Bauernhof in der kleinen Gemeinde Andorf aufgeführt. Und das vor einem durchaus nicht einfachen Publikum: Unter anderem seine eigene Großmutter und mehrere örtliche Brauchtumsgruppen wollten sehen, was der ehemalige Junge aus dem Dorf heute so treibt. „Die meisten Zuschauer waren begeistert und haben mir erzählt, dass sie unbedingt auch einmal nackt schuhplatteln wollen“, erinnert er sich und kann sich ein
Lachen nicht verkneifen. Man darf also festhalten: Daheim in Ober- österreich hat Mayer seine Mission schon einmal erfüllt. ‹Sons of Sissy, 26. & 27. Juli, jeweils 22 Uhr, und 28. Juli, 18 Uhr, Theaterplatz LudwigshafenMGV Walhalla zum Seidlwirt, 26. & 27. Juli, jeweils 20.30 Uhr, und 28. Juli, 16.30 Uhr, Theaterplatz Ludwigshafen
Bildnachweis:
Rania Moslam (Aufmacher), Franzi Kreis (Mayer)Ludwigshafener Kultursommer
Ungewöhnlichen Orte, originelle Ausdrucksformen und vielfältige Akteur*innen — das ist der Ludwigshafener Kultursommer, der alljährlich von Juni bis September ein spannendes Programm mit rund 80 Veranstaltungen bietet. Das Programm ist eine spannende Mischung aus Initiativen aus der Stadtgesellschaft und Angeboten des etablierten Kunstbetriebs, aus Kulturschaffenden aus der Region und internationalen Künstler*innen.
TerminFR 26. bis SO 28. Juli 2019
AdresseStadt Ludwigshafen – Kulturbüro // Bahnhofstraße 30 // 67059 Ludwigshafen // Telefon: 0621 504-2263 // E-Mail: kulturbuero@ludwigshafen.de