Heidelberger Stückemarkt

Der Geist der Revolution

› Die ganze Welt blickt im Winter 2013/14 nach Kiew, als dort der Maidan brennt. Viktor Janukowytsch, damaliger Präsident der Ukraine, wird aus dem Land gejagt und sein korruptes Regime gestürzt. Die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union, selbst von einer tiefen Krise erfasst, beobachten mit Spannung, wie an der östlichen Peripherie Europas für Freiheit, Gerechtigkeit und Demokratie gekämpft wird.

Drei Jahre später ist der Maidan leer und aufgeräumt, nur am Rande des Platzes erinnern Kerzen und Blumen vor der Tafel der „Himmlischen Hundert“ an die Opfer der Scharfschützen. Die Ukraine ist aus dem Blickfeld der Weltöffentlichkeit gerückt, dabei befindet sich das Land noch immer in einer schweren Krise. Die Halbinsel Krim gilt als an Russland verloren, im Osten des Landes herrscht ein Krieg, dem bereits mehr als 10.000 Menschen zum Opfer fielen, und zurzeit ist die Ukraine laut Transparency International das korrupteste Land Europas.
  • Theater und Krieg: Die Produktionen aus der Ukraine, dem diesjährigen Gastland des Stückemarkts, …
  • … hat der ukrainische Dramatiker Pavlo Arie für das Theater Heidelberg ausgewählt, darunter auch …
  • … die beklemmende Inszenierung "Haus der Hunde" des Dakh Theatre aus Kiew.
Wie sich Theater in einer solchen Extremsituation verhält, fragt das Theater und Orchester Heidelberg, das die Ukraine als Gastland zum 34. Heidelberger Stückemarkt eingeladen hat. Die Besucher können dort nicht nur neue ukrainische Dramatik in szenischen Lesungen, sondern auch ästhetisch spannende und politisch brisante Inszenierungen erleben. Darüber hinaus gibt es selbstverständlich wieder reichlich Gelegenheit, sich bei Begegnungen und Gesprächen mit den ukrainischen Gästen über die aktuelle Lage des Theaters in der Ukraine zu informieren.

Augenzeugenberichte statt Ästehtik

„Der Geist der Revolution hat auch das ukrainische Theater beseelt“, erklärt Pavlo Arie, Scout des Gastlandprogramms. Eine aufstrebende Generation von jungen Autoren und Theatermachern versuche, so Arie weiter, mit gesellschaftskritischen und politischen Themen die Bühnen zu erobern. „Allerdings sind die Strukturen der Stadt- und Staatstheater nach wie vor äußerst konservativ, die neue Dramatik und junge Theatermacher finden nur schwer Einzug in die Häuser“, berichtet der Theaterexperte. Als freie Gruppen erhalten sie keinerlei finanzielle Unterstützung seitens des Staates, weshalb neue Stücke oft nur in szenischen Lesungen vorgestellt werden können. Zugleich ist es in der postrevolutionären Ukraine schwer, mit der sich ständig verändernden Lage Schritt zu halten. Zunehmend wichtiger wird daher dokumentarisches Theater. Dabei tritt die Ästhetik zugunsten von Augenzeugenberichten in den Hintergrund.
  • Helden unter sich: Aus der Feder des Gastland-Scouts Pavlo Arie stammt das Stück "Ruhm den Helden", bei dem …
  • … zwei Kriegsveteranen sich mit Macht und Korruption konfrontiert sehen. In einem Käfig …
  • … finden sich die Zuschauer bei der Produktion "Haus der Hunde" wieder.
Diese Form nutzt auch das PostPlay Theatre, dessen Produktion „The Case of 26th February“ in einer szenischen Installation beim Stückemarkt präsentiert wird. „The Case of 26th February“ ist eine kaleidoskopische Zusammenstellung von Erinnerungen an die Annektierung der Krim, die das PostPlay Theatre gesammelt und arrangiert hat. Galina Dzikaeva, selbst Teil der Gruppe, versucht, mit dieser Arbeit auch ihr eigenes Schicksal zu bewältigen. Die russische Regierung zwang die Theatermacherin aus Simferopol nach der Annektierung der Krim dazu, die Halbinsel innerhalb von nur wenigen Stunden zu verlassen.

Die größte Tragödie der ukrainischen Geschichte

Gleich zwei der eingeladenen Gastspiele beleuchten die Gegenwart der Ukraine vor der Folie ihrer Geschichte. Das Stück „Der Getreidespeicher“ von Natalia Vorozhbyt spielt vor dem Hintergrund der wohl größten Tragödie der ukrainischen Geschichte des 20. Jahrhunderts: Holodomor, einer Hungersnot in den Jahren 1932 und 1933, die — so sehen es viele Historiker nicht nur in der Ukraine — vorsätzlich von Stalin verursacht wurde und der nach Schätzungen insgesamt rund 3,5 Millionen Menschen zum Opfer fielen. Das erste ukrainische Kinder- und Jugendtheater aus Lwiw wagt es, dieses Stück mit der heiklen Thematik auf der großen Bühne zu zeigen und initiiert zugleich die erste Koproduktion eines staatlichen Theaters mit freien Künstlern. Mit einer reduzierten Bühnenästhetik inszeniert Stas Zhyrkov „Ruhm den Helden“ von Pavlo Arie, ein Stück über zwei Kriegsveteranen, die sich auf ihrem Sterbebett mit den undurchsichtigen Verstrickungen von Macht und Korruption konfrontiert sehen.

„Wir müssen uns wehren!“

Ein weiteres Highlight des Gastlandprogramms sind die Vorstellungen des Dakh Theatre, eines bedeutenden nicht-kommerziellem Zentrums für zeitgenössische Kunst in Kiew. Beim Heidelberger Stückemarkt werden gleich zwei Performances dieses Theaters zu sehen sein. „Haus der Hunde“ ist eine Inszenierung, die beim Zuschauer allein durch ihre Bildsprache Beklemmung auslöst. Die Zuschauer sitzen auf einem stählernen Käfig und blicken auf die Insassen herab, die hinter den Gittern ihren Alltag fristen. Der Käfig, als Symbol für die Ukraine, ist für den Regisseur Vladislav Troitskyi „ein szenografisches Experiment über politische und geistige Unbeweglichkeit“ und soll das Publikum an die eigene Pflicht zu handeln erinnern: „Wir müssen uns wehren, selbst etwas tun und nicht auf die Hilfe des Staates warten!“

Den Auftakt geben die „Dakh Daughters“ — sieben puppenblass geschminkte Frauen, die als Galionsfiguren der Maidan-Proteste gelten. Virtuos spielen sie Kontrabass, Cello, Klavier, Akkordeon, Percussion und Glockenspiel, kombinieren Folkloregesang, Rap, Heavy Metal und Chansons. Zwischen brennenden Autoreifen sangen die „Dakh Daughters“ von Utopien und neuer politischer Realität, von postsowjetischen Tragödien und der vielschichtigen Identität ihres Landes. Mittlerweile präsentieren die kühnen Damen ihr künstlerisch-skurriles, musikalisch-theatrales Freak-Kabarett in Polen, Frankreich, Brasilien — und eben auch beim Stückemarkt in Heidelberg. ‹

Heidelberger Stückemarkt

Neben spannenden Produktionen aus einem Gastland Litauen bietet der Heidelberger Stückemarkt aktuelle Inszenierungen aus dem gesamten deutschsprachigen Raum. Eine große Bandbreite an künstlerischen Handschriften, die das zeitgenössische Theater prägen. Neue, noch nicht aufgeführte Theaterstücke, gelesen von Schauspielern des Theaters Heidelberg. Theaterautoren von morgen im Wettbewerb um den Autorenpreis. Künstlergespräche, Publikumsdiskussionen und Partys.
TerminFR 28. April bis SO 07. Mai 2017
AdresseTheater und Orchester Heidelberg // Theaterstraße 10 // 69117 Heidelberg
SpielorteTheater und Orchester Heidelberg
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