› Türkische Flaggen lassen den Taksim-Platz in Istanbul in kräftigem Rot erstrahlen. Die Baustelle am Rand des Platzes fällt kaum ins Auge. Hier stand vor Kurzem noch das Atatürk-Kulturzentrum. Nun wird der Platz von einer riesigen, noch nicht fertiggestellten Moschee dominiert. Für Kunst und Kultur scheint es in der Türkei unter Recep Tayyip Erdogan keinen Platz mehr zu geben. Doch obwohl das Land in einer politischen und wirtschaftlichen Krise steckt, spielt sich das Theater frei. Die türkische Theaterszene ist lebendiger und aktiver als jemals zuvor. Allein in Istanbul werden jeden Abend mehr als 150 Aufführungen auf die Bühne gebracht, fast jeden Tag wird eine Premiere gefeiert. Die Szene lebt!
Dabei lässt sich leicht vergessen, dass auch das Theater mehr denn je politischem Druck ausgesetzt ist. Theaterwissenschaftler und -wissenschaftlerinnen werden entlassen, Intendanten und Intendantinnen gezwungen, ihren Posten aufzugeben, Aufführungen verboten. Nur ein Drittel aller Produktionen entsteht an staatlich geförderten Theatern. Der Großteil entsteht in alten Lagerräumen, Kellern oder Garagen. Bühnen im klassischen Sinne gibt es oft nicht. „Dafür eröffnen zahlreiche neue Begegnungsräume, in denen ausgesprochen wird, worüber geschwiegen werden soll“, berichtet Gülhan Kadim, die das türkische Gastlandprogramm kuratiert hat.
Plattformen für gesellschaftspolitische Diskurse entstehen und mit kreativen Schreib- und Regieansätzen versuchen die Künstlerinnen und Künstler, die Zensur zu umgehen. Wie dies gelingen kann, zeigt das Gastspiel des tiyatroadam. Mit „Meçhul Pasa — die Geschichte einer verbotenen Zeitung“ erzählt die Gruppe vom Aufstieg und Fall des Satire-Magazins „Marko Pasa“. 1946 ging das Magazin erstmals an den Start, wurde allerdings bald schon zensiert. Die Schreiber und Zeichner wurden verfolgt und verhaftet. Die Bezüge zur Aktualität sind unübersehbar, aber da sich Text und Inszenierung eindeutig auf die Vergangenheit beziehen, sind sie unangreifbar. Die scharfe Kritik am Umgang mit der Presse- und Meinungsfreiheit im Land tarnt sich als harmlose historische Boulevardkomödie — und kann so auch auf großen Bühnen gespielt werden. Monolog mit Topfpflanze
Eine Inszenierung, die ohne Bühne auskommt und mit nahezu keinen technischen und finanziellen Mitteln produziert wurde, ist der Monolog „Lieber schamloser Tod — Dirmit“ der freien Theatergruppe Hemhâl. Nur mit einer Topfpflanze als Requisit erzählt die Schauspielerin Nezaket Erden von dem Mädchen namens Dirmit, das zusammen mit der Großfamilie das Heimatdorf verlassen und in die Stadt ziehen musste. In der fremden Umgebung versucht Dirmit, ihren Platz zu finden, und widersetzt sich mit unermüdlichem Elan den patriarchalen Strukturen ihrer Familie. Die Arbeit beschreibt, wie Tradition und Moderne aufeinanderprallen, und schildert den weiblichen Kampf um Selbstbestimmung. Sie übernimmt dabei die vermeintlich naive Perspektive eines jungen Mädchens und berührt so auf ganz eigene Weise.
Die Theaterszene Istanbuls entwickelt jedoch nicht nur neue Erzähltechniken und Dramaturgie-Ansätze, zunehmend gehen aus ihr auch interdisziplinäre Theaterformen und innovative Ästhetiken hervor. Ein Beispiel hierfür ist das Gastspiel des Tanztheaterstücks „Zwei“. Als Textgrundlage dient ein Kaleidoskop unterschiedlicher Fragmente aus dem Alten Testament, der klassischen Literatur und der zeitgenössischen Lyrik. Dennoch fungiert die Sprache eher als untergeordnetes Erzählelement. Im Vordergrund stehen die drei Performerinnen, deren Bewegungen der Regisseur Semih Fırıncıoglu zusammen mit Musik, Licht und einfachen Requisiten aus Karton zu einem poetischen Gesamtkunstwerk choreografiert. In ungewöhnlich poetischer und zugleich überraschend humorvoller Art reflektiert „Zwei“ das menschliche Dasein und beeindruckt durch die Kraft seiner Bilder und Darstellerinnen.Die Freiheit, kritisch zu sein
Neben den vielen bemerkenswerten Theaterproduktionen der freien Szene gibt es in Istanbul ein öffentlich getragenes Theater, das sich die Freiheit leisten kann, kritisch zu sein. Das BBT (Bakırköy Belediye Tiyatrosu) ist ein städtisches Theater aus dem oppositionellen Istanbuler Arbeitervorort Bakırköy. Beim Heidelberger Stückemarkt wird das BBT mit „I love you Turkey“ gastieren. Das Stück spielt in einem Waschsalon. Während sich die Kleidung in der Waschmaschine dreht, erzählen die Protagonisten, warum es ihnen immer schwerer fällt zu sagen: „I love you Turkey!“. Zum Auftakt des Gastspielprogramms wird aber erst einmal gefeiert! Die sechs Musiker der Band Kolektif Istanbul verbinden traditionelle anatolische Melodien mit modernen Beats, Funk, World und Jazz zu einem treibenden Sound. Er ist ebenso wie ihre Heimat Istanbul ein Schmelztiegel. Mit Klarinette, Saxofon, Akkordeon, Tuba, Perkussion, Schlagzeug und Dudelsack entsteht musikalisch wie optisch ein kreatives Chaos, zu dem sich wunderbar das Tanzbein schwingen lässt. ‹
Dabei lässt sich leicht vergessen, dass auch das Theater mehr denn je politischem Druck ausgesetzt ist. Theaterwissenschaftler und -wissenschaftlerinnen werden entlassen, Intendanten und Intendantinnen gezwungen, ihren Posten aufzugeben, Aufführungen verboten. Nur ein Drittel aller Produktionen entsteht an staatlich geförderten Theatern. Der Großteil entsteht in alten Lagerräumen, Kellern oder Garagen. Bühnen im klassischen Sinne gibt es oft nicht. „Dafür eröffnen zahlreiche neue Begegnungsräume, in denen ausgesprochen wird, worüber geschwiegen werden soll“, berichtet Gülhan Kadim, die das türkische Gastlandprogramm kuratiert hat.
Eine Inszenierung, die ohne Bühne auskommt und mit nahezu keinen technischen und finanziellen Mitteln produziert wurde, ist der Monolog „Lieber schamloser Tod — Dirmit“ der freien Theatergruppe Hemhâl. Nur mit einer Topfpflanze als Requisit erzählt die Schauspielerin Nezaket Erden von dem Mädchen namens Dirmit, das zusammen mit der Großfamilie das Heimatdorf verlassen und in die Stadt ziehen musste. In der fremden Umgebung versucht Dirmit, ihren Platz zu finden, und widersetzt sich mit unermüdlichem Elan den patriarchalen Strukturen ihrer Familie. Die Arbeit beschreibt, wie Tradition und Moderne aufeinanderprallen, und schildert den weiblichen Kampf um Selbstbestimmung. Sie übernimmt dabei die vermeintlich naive Perspektive eines jungen Mädchens und berührt so auf ganz eigene Weise.
Neben den vielen bemerkenswerten Theaterproduktionen der freien Szene gibt es in Istanbul ein öffentlich getragenes Theater, das sich die Freiheit leisten kann, kritisch zu sein. Das BBT (Bakırköy Belediye Tiyatrosu) ist ein städtisches Theater aus dem oppositionellen Istanbuler Arbeitervorort Bakırköy. Beim Heidelberger Stückemarkt wird das BBT mit „I love you Turkey“ gastieren. Das Stück spielt in einem Waschsalon. Während sich die Kleidung in der Waschmaschine dreht, erzählen die Protagonisten, warum es ihnen immer schwerer fällt zu sagen: „I love you Turkey!“. Zum Auftakt des Gastspielprogramms wird aber erst einmal gefeiert! Die sechs Musiker der Band Kolektif Istanbul verbinden traditionelle anatolische Melodien mit modernen Beats, Funk, World und Jazz zu einem treibenden Sound. Er ist ebenso wie ihre Heimat Istanbul ein Schmelztiegel. Mit Klarinette, Saxofon, Akkordeon, Tuba, Perkussion, Schlagzeug und Dudelsack entsteht musikalisch wie optisch ein kreatives Chaos, zu dem sich wunderbar das Tanzbein schwingen lässt. ‹
Bildnachweis:
Emre MollaoğluHeidelberger Stückemarkt
Neben spannenden Produktionen aus einem Gastland Litauen bietet der Heidelberger Stückemarkt aktuelle Inszenierungen aus dem gesamten deutschsprachigen Raum. Eine große Bandbreite an künstlerischen Handschriften, die das zeitgenössische Theater prägen. Neue, noch nicht aufgeführte Theaterstücke, gelesen von Schauspielern des Theaters Heidelberg. Theaterautoren von morgen im Wettbewerb um den Autorenpreis. Künstlergespräche, Publikumsdiskussionen und Partys.
TerminFR 26. April bis MI 08. Mai 2019
AdresseTheater und Orchester Heidelberg // Theaterstraße 10 // 69117 Heidelberg
SpielorteTheater und Orchester Heidelberg
Ticketsheidelberg.de