MARCHIVUM

Erinnern für morgen

› Berichte über Holocaust-Überlebende, die während der Bombardierung ukrainischer Städte ums Leben gekommen sind — was vor wenigen Monaten noch nach abwegiger Schwarzmalerei klang, kann wohl gegenwärtig als wahrgewordener Albtraum bezeichnet werden. In eben diesen Zeiten eines neuen Krieges auf europäischem Boden eröffnet das MARCHIVUM eine Ausstellung als Teil eines NS-Dokumentationszentrums, in dem Mannheims Stadtgeschichte zwischen 1933 und 1945, aber auch die Auswirkungen bis in die Gegenwart im Fokus stehen. Dabei wagt das Haus, das im vergangenen Jahr schon mit der Eröffnung der rein multimedialen stadtgeschichtlichen Ausstellung auf neue museale Vermittlungswege setzte, einen Ansatz, der sich von vergleichbaren Dokumentationszentren abhebt. „Uns war klar, dass wir einen Ort schaffen wollen, der einen Bezug zur Gegenwart herstellt und der Identifikationspotenzial für die Besucher*innen bieten muss“, erklärt MARCHIVUM-Direktor Ulrich Nieß.

Prominente Verstärkung

Um dieses Vorhaben umzusetzen, holte sich das MARCHIVUM prominente Verstärkung. Der kanadische Medienkünstler Stacey Spiegel hat als künstlerischer Berater die Präsentation zusammen mit dem MARCHIVUM und der Berliner Arbeitsgemeinschaft Tatwerk/finke.media entwickelt. Bereits Mitte der 1980er-Jahre war Spiegel für ein mehrjähriges Stipendium am renommierten Massachusetts Institute of Technology MIT in Cambridge und kam im dortigen „Center for Advanced Media Studies“ in Berührung mit Medienkunst und mit dem Einsatz neuer Technologien zur Vermittlung und Produktion von Wissen. In den vergangenen Jahrzehnten beriet Spiegel Museen in aller Welt und entwickelte multimediale Ausstellungskonzepte, unter anderem das vielbeachtete Museum für Pop und Rock im norwegischen Trondheim.
  • Das Herweckbad am Rhein. 1935 wurde das Bad als offiziell „judenfrei“ betitelt, nachdem alle jüdischen Badegäste brutal von SA-Leuten in Zivil überfallen und aus dem Bad vertrieben wurden.
  • Der Mannheimer Hauptbahnhof mit Hakenkreuzbeflaggung im Jahr 1938.
Die Konzeption eines Dokumentationszentrums war für Spiegel jedoch ein Novum: „Es ist für mich ein sehr spannendes Projekt, da ich einerseits viel über die historischen Zusammenhänge hier in Mannheim lernen konnte, andererseits für mich als Juden meine eigene Familiengeschichte eng mit dem Holocaust verknüpft ist“, berichtet Spiegel. Selbst habe er über die Jahre viele Gedenkstätten in Deutschland besucht und kenne sich mit der Erinnerungskultur in Deutschland gut aus. Diese sei nüchtern und versuche bewusst, Emotionen auszuklammern. Spiegel sieht es jedoch an der Zeit, eine neue Art der Präsentation zu wagen: „Ich habe mich intensiv mit jungen Menschen über das Thema ausgetauscht und es wurde deutlich, dass viele die Zeit der NS-Diktatur als historisches Kapitel ohne Bezug zu ihrer Lebenswelt sehen. Dabei ist es gerade heute wichtig zu verstehen, dass die Demokratie ein fragiles System ist.“

Aufstieg und Niedergang des NS-Regimes
Die Ausstellung im ersten Obergeschoss des MARCHIVUMs präsentiert den Aufstieg und Niedergang des NS-Regimes im Kontext der Stadtgeschichte, beginnend mit der Weimarer Republik 1918 und endend in einem Raum der Demokratie, der einen Bogen zur Gegenwart schlägt. „Wichtig ist es zu zeigen, dass reale Individuen hinter den Opfern und Tätern stehen“, erklärt Spiegel. „Wir geben beiden Seiten ein Gesicht.“ Gerade durch die Beschäftigung mit den lokalen Geschichten werde deutlich, dass der Aufstieg der Nationalsozialisten unmittelbar mit den Entscheidungen und Handlungen Einzelner einherging und sei es vielfach das Schweigen der Mitläufer*innen gegen die wachsende Diskriminierung, die schließlich in einen Genozid mündete. Vor Augen geführt wird dies etwa am Nachlass einer jüdischen Familie aus Mannheim: Private Filmaufnahmen aus dem Jahr 1934, kurz bevor die Familie auswanderte, zeigen Jugendliche beim ausgelassenen Badevergnügen im Herweckbad am Rhein. 1935 wurde das Bad als offiziell „judenfrei“ betitelt, nachdem alle jüdischen Badegäste brutal von SA-Leuten in Zivil überfallen und aus dem Bad vertrieben wurden.
  • Multimediale Präsentation – In den entstehenden Ausstellungsräumen werden Aufstieg und Fall des NS-
    Regimes mit Originaldokumenten multimedial inszeniert. Das Bild links zeigt den Raum zur Weimarer Republik.
In verschiedene Themenräume aufgeteilt, führt die Ausstellung in einer multimedialen Form durch die politischen, sozialen und gesellschaftlichen Veränderungen, die für Mannheim und die hiesige Bevölkerung prägend waren. Auch das Hakenkreuz sowie andere Symbolik und Propaganda des NS-Regimes werden in der Schau bewusst nicht ausgespart. Zeitgenössische Fotoaufnahmen zeigen den Wasserturm mit riesiger Hakenkreuzbeflaggung oder eine Leuchtreklame in Form des Hakenkreuzes an einem Ladengeschäft in E1. „Zu sehen, dass dies alles an Orten geschah, die noch heute zentral sind für das alltägliche Leben in Mannheim, schafft noch einmal einen ganz anderen Bezug zum Thema“, ist Ulrich Nieß überzeugt. „Stacey Spiegel hat uns ermutigt, nicht zu ängstlich zu sein und auch auf eine emotionale Ansprache zu setzen.“

Vielschichtiges Ausstellungskonzept
Wo es kein Bildmaterial gibt, werden auch ungewöhnliche Präsentationswege gewählt. Von den Novemberpogromen wird zum Beispiel in Form einer Graphic Novel erzählt. Gerade hier kann auch ein Fakt korrigiert werden, der sich vielfach falsch im kollektiven Stadtgedächtnis verankert hat und nun noch einmal von den Historiker*innen recherchiert wurde: Die Synagoge in den Quadraten wurde nicht wie so viele andere Synagogen überall in Deutschland in Brand gesetzt, sondern wegen der angrenzenden Bauten gezielt gesprengt. Rüstung und Zwangsarbeit, die Deportationen nach Gurs, die Widerstandsgruppe um den Kommunisten Georg Lechleiter und auch die Zerstörungen nach den Bombardements 1945 sind weitere Themen. Unterbrochen wird die Präsentation von Kunstwerken: Diese beziehen sich auf allgemein bekannte Ereignisse wie die Bücherverbrennung oder die Deportationen und schaffen einen weiteren emotionalen Zugang.

Die Macher*innen wünschen sich, dass sich durch ein solches vielschichtiges Ausstellungskonzept die Besucher*innen auf eine Konfrontation mit diesem Kapitel der Stadtgeschichte einlassen und dass sich dadurch ein generationsübergreifender Dialog entwickelt, nicht nur über die Schrecken der Vergangenheit, sondern auch über die Herausforderungen der Gegenwart. Das MARCHIVUM hat dafür seine Türen geöffnet und Räume geschaffen. ‹

NS-Dokumentationszentrum
ab 02. Dezember 2022
MARCHIVUM, Mannheim
www.marchivum.de

  • Das MARCHIVUM ist in einem ehemaligen Hochbunker untergebracht.
  • Eine Bunkerbewohnerin mit ihrem Kind in den 50er-Jahren in Mannheim.

Bunker in Mannheim

Seit 2018 residiert das MARCHIVUM als Forschungszentrum, Lernort und Stadtarchiv im ehemaligen Ochsenpferchbunker, dem größten Hochbunker Mannheims, der eigens für die neue Nutzung umgebaut wurde. Zeitgleich mit dem NS-Dokumentationszentrum eröffnet ein eigener Raum, der die Geschichte des Ortes und der vielen weiteren Schutzräume in Mannheim erzählt, die während des 2. Weltkriegs entstanden. Dabei geht es auch um deren Nutzung bis in die 1960er-Jahre, etwa als Wohnräume im Nachkriegs-Mannheim.

MARCHIVUM

Hier wird Mannheims Geschichte bewahrt und für die Zukunft gesichert. Dafür wurde Mannheims größter Hochbunker spektakulär umgebaut und der Bau in das Förderprogramm „Nationale Projekte des Städtebaus“ aufgenommen. Das MARCHIVUM steht auf drei Säulen: das Archiv mit seinen umfangreichen Sammlungen und Beständen; die Bereiche Forschung, Bildung und Vermittlung sowie Ausstellungsprojekte zur Stadtgeschichte und NS-Zeit.
Terminab 2. Dezember 2022
AdresseArchivplatz 1 // 68169 Mannheim // Tel. 0621 293-7027 // marchivum@mannheim.de
ÖffnungszeitenDienstag, Mittwoch, Freitag 8–16 Uhr // Donnerstag 8–18 Uhr // Feiertags geschlossen
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