› Wenn im November in Madrid die Temperaturen rasant nach unten gehen, wird es in den Theatersälen der spanischen Hauptstadt laut und bunt. Dort steigt jedes Jahr ein internationales Herbstfestival, das Festival de Otoño. Es bietet vielfältigen theatralen Genres ein Forum — dem zeitgenössischen Schauspiel und Tanz genauso wie dem Objekttheater und partizipativen Projekten. Für Chefdramaturg Jürgen Popig und den Produktionsleiter des Stückemarkts Felix Heimbach ist der Besuch eine Quelle der Inspiration gewesen. „Auch wenn das Festival dieses Mal weitgehend auf die Aufführungen fokussiert war und es coronabedingt nicht so viel Rahmenprogramm gab“, berichtet Heimbach. Ein wichtiges europäisches TheaterlandDie Entscheidung, Spanien zum Gastland zu küren, fiel den Stückemarkt-Verantwortlichen leicht. Zum einen ist Spanien in diesem Jahr Ehrengast bei der Frankfurter Buchmesse. „Das hat uns bewogen, es zum Gastland zu machen, um Kooperationen zu ermöglichen und Synergieeffekte zu erzielen“, erläutert Popig. Zum anderen ist Spanien ein wichtiges europäisches Theaterland. Die Szene ist facettenreich und kreativ und profitiert bis heute vom kulturellen Aufwind und der gesellschaftlichen Modernisierung nach dem Ende der Franco-Diktatur. Unabhängige Bühnen, kritische StimmenDie neue Politik ebnete damals anspruchsvollem und unabhängigem Theater die Bühne. Während es vor 1975 nur privat geführte Häuser gab, die sich auch wegen der Zensur auf ein bürgerliches Unterhaltungsprogramm beschränkten, baute die junge Demokratie ein öffentlich gefördertes System auf. So entstand unter anderem das Centro Dramático Nacional, das seinen Sitz im prachtvollen Madrider Teatro María Guerrero hat. Mit dem Neuanfang knüpften die Kulturpolitiker wieder an europäische Traditionen an, aus denen das Theater in früheren präfaschistischen Zeiten schöpfte. Geprägt wurde es von Größen der Weltliteratur wie Cervantes und Lope de Vega, der nach eigenen Worten 1.500 Dramen geschaffen hat. Erhalten geblieben sind von ihm etwa 500.Selbstbewusst und offen — die spanische TheaterszeneHeute hat sich Spanien weit von der These „España es diferente“ (Spanien ist anders) entfernt, mit der das Franco-Regime eine exotische Sonderstellung des Landes auf der iberischen Halbinsel heraufbeschwor. Das beliebte Urlaubsziel ist ein agiler Global Player mit einer schillernden Kreativszene und einer aufstrebenden Theateravantgarde.
Diese experimentiert mit poetischen Bildern sowie neuen Formen und emanzipiert sich selbstbewusst von ihren Vorgänger*innen aus den 1980er- und 1990er-Jahren. Dabei lässt sich die neue Generation von unterschiedlichen Disziplinen beeinflussen — von Schriftstellern wie dem Autor des „Lumpenromans“ Roberto Bolaño oder David Foster Wallace, von Komponisten wie Heiner Goebbels oder dem Multitalent Pier Paolo Pasolini, um nur einige Beispiele zu nennen. Der Trend, die Fühler in andere Kunstbereiche auszustrecken, hat sich auch beim letzten Herbstfestival fortgesetzt. „Es gab viele Aufführungen mit einem spartenübergreifenden Ansatz. Schauspiel wurde mit Tanztheater, Performance und Musik gemischt“, berichtet Popig von seinen Erfahrungen. An vielen Stellen sei der Text sogar in den Hintergrund getreten. Besonders beeindruckt hätten ihn die gewaltige Bildsprache und die artistischen Fähigkeiten der Schauspieler*innen. Ein weiterer Schwerpunkt der jungen Theaterriege liegt auf Überschreibungen von klassischen Stoffen. Bei Dramen wie etwa denen von Federico García Lorca, dem Autor von „Bernarda Albas Haus“, oder von William Shakespeare wechselt dabei oft der Blickwinkel. Alles ist im FlussGemeinsam mit der Regisseurin Carlota Ferrer und dem Autor und Dramaturgen José Manuel Mora haben die beiden Stückemarkt-Organisatoren nun das Gastland-Programm zusammengestellt. Die Wahl fiel unter anderem auf Shakespeares „Othello“ in der Fassung von Fernando Epelde und in der Inszenierung von Marta Pazos. Das Besondere daran: Das Eifersuchtsdrama wird aus der Perspektive von Othellos Frau Desdemona geschildert. „Dabei wird mit rassistischen und sexistischen Klischees gespielt“, erläutert Popig. Zum Auftakt tanzen Othello und Desdemona eine aufreizende Rumba. Danach werden die Geschlechterrollen durcheinandergewürfelt. Eine Schauspielerin schlüpft in die Rolle von Othellos Gegenspieler Yago, ein Schauspieler in Minirock und Brokatmieder stellt hingegen dessen Frau Emilia dar. „Bei uns gibt es Überlegungen, ob man Othello heute noch spielen kann und wenn ja, wie. Diese Inszenierung hat eine tolle Lösung gefunden, indem sie die Diskussion in die Aufführung integriert“, findet der Heidelberger Chefdramaturg. Darüber hinaus ist die Othello-Inszenierung ein Beispiel dafür, wie bildmächtig und allegorisch das zeitgenössische Sprechtheater in Spanien ist. Die Festivalbesucher in Heidelberg erwartet ein echtes Theaterfest. ‹
Bildnachweis:
Estrella Melero (Othello); Jörg Landsberg (CON5P1R5.CY); Jörg Brüggemann, Ostkreuz (Leben)Heidelberger Stückemarkt
Neben spannenden Produktionen aus einem Gastland Litauen bietet der Heidelberger Stückemarkt aktuelle Inszenierungen aus dem gesamten deutschsprachigen Raum. Eine große Bandbreite an künstlerischen Handschriften, die das zeitgenössische Theater prägen. Neue, noch nicht aufgeführte Theaterstücke, gelesen von Schauspielern des Theaters Heidelberg. Theaterautoren von morgen im Wettbewerb um den Autorenpreis. Künstlergespräche, Publikumsdiskussionen und Partys.
TerminFR 29. April bis SO 08. Mai 2022
AdresseTheater und Orchester Heidelberg // Theaterstraße 10 // 69117 Heidelberg
SpielorteTheater und Orchester Heidelberg
Ticketsheidelberg.de