› „Einen schönen Tag noch!“ — der Ausspruch, der Kundinnen und Kunden jeden Tag von den Kassen entgegenschallt, wird in der Musiktheater-Performance „Have a Good Day!“ zum Programm. Die „Oper für 10 Kassiererinnen, Supermarkt-Sounds und Klavier“ hinterfragt diese Phrase und versucht zu ergründen, was sich hinter dem aufgesetzten Lächeln und der mechanischen Freundlichkeit verbirgt. Welche Lebensgeschichten streifen wir täglich, ohne an ihnen Anteil zu nehmen?Archetypen der Postmoderne„Have a Good Day!“ blickt hinter die freundliche Fassade. Das Publikum erfährt mehr über die Figuren, die sich unzufrieden durch den Alltag schlagen. Eine alleinerziehende Mutter, eine Migrantin, eine Vorstadtbewohnerin, eine arbeitslose Absolventin der Kunstgeschichte — sie alle sind Archetypen der Postmoderne, mit denen wir täglich konfrontiert sind. Geschaffen hat die Performance ein Künstlerinnen-Trio, das auch international schon für Furore gesorgt hat: Für ihre Oper „Sun & Sea (Marina)“ sind Librettistin Vaiva Grainyte, Komponistin Lina Lapelyte˙ sowie Regisseurin und Bühnenbildnerin Rugile Barzdžiukaite bei der Kunstbiennale in Venedig 2019 mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet worden.
Die Figuren von „Have a Good Day!“ spiegeln auch die Lebensrealität der Durchschnittsbürgerinnen und -bürger in Litauen wider, einem Land, das seit der Loslösung von der Sowjetunion 1990, vor allem aber seit dem Beitritt zur Europäischen Union 2004, von so starker Abwanderung geprägt ist, dass sich die Bevölkerung um fast die Hälfte reduziert hat. Gründe dafür sind unter anderem das signifikante Lohngefälle zwischen alten und neuen EU-Staaten, wobei sich die Lebenshaltungskosten in Litauen in den vergangenen Jahren erheblich erhöht haben. Hinzu kommen eine hohe Arbeitslosenquote und fehlende Perspektiven für junge Menschen.Das Künstlerinnentrio greift diese soziale Misere auf. Die privaten Schicksale der immer lächelnden Kassiererinnen werden in diesem Stück zum Symptom des Massenkonsums und der damit zusammenhängenden Ausbeutung von Menschen. Inszeniert in einer White Box mit zehn umwerfenden Sängerinnen auf Podesten an Barcode-Scannern, zeigt „Have a Good Day!“ den nicht enden wollenden Konsumwahn einer Gesellschaft, die ohnehin schon genug hat. Einen Ausweg gibt es (noch) nicht, denn wir kaufen — sie scannen. Willkommen im Land des RegensSchauer, Schnee, Kälte — Litauen ist nichts für notorische Sonnenanbeter. Das Land trägt die schlechten Wetteraussichten sogar in seinem Namen, denn „lietus“ bedeutet Regen. Davon inspiriert, nennt das „teatras atviras ratas“ — wörtlich übersetzt „Theater des offenen Kreises“ – sein Stück „Regenland“. Es handelt von Litauens dramatischer Geschichte. Die Schauspielerinnen und Schauspieler haben in ihren Familien nachgeforscht und sind auf bewegende Erinnerungen gestoßen. In der intimen Atmosphäre eines offenen Kreises entsteht aus den Berichten von Eltern, Großeltern, Tanten und Onkeln ein Kaleidoskop der litauischen Geschichte zwischen Zweitem Weltkrieg und sowjetischer Besatzung.
Schmerzensreich oder doch gleich gar keine Gefühle? Dieser Frage widmen sich zwei weitere Produktionen. „Stabat Mater“, inszeniert von Regisseurin Egle Kazickaite, basiert auf August Strindbergs 1907 veröffentlichtem Theaterstück „Der Pelikan“. Der Titel nimmt Bezug auf die um ihren Sohn trauernde Mutter Gottes, die „Schmerzensreiche“, und hinterfragt die Rolle der Frau als ergebene und sich aufopfernde Mutter. Die Antwort wird nicht in Worten gesucht. Der gesamte Text wird kompromisslos in Bewegung übersetzt und allein der körpersprachliche Ausdruck macht die Beziehungen zwischen den Figuren deutlich. Camus und StrindbergEbenfalls Anleihe bei einem europäischen Klassiker, diesmal bei Albert Camus’ existenzialistischem Roman „Der Fremde“, nimmt Regisseur Agnius Jankevicius mit „Mari Kardona“. Er lässt die Nebenfigur Marie Cardona aus dem Schatten des Protagonisten Meursault hervortreten und das erzählen, was Camus nicht geschrieben hat: Ihre eigene Lebensgeschichte, denn sie hat nie gelernt zu fühlen. Sie muss erst begreifen, was es bedeutet, wenn sich ein eigenartiges Gefühl in der Magengrube einstellt und die Augen feucht werden. Sowohl die Schauspielerin Gabriele Ladygaite als auch Regisseur Agnius Jankevicius waren 2018 mit „Mari Kardona“ für das Goldene Kreuz, eine der höchsten litauischen Theaterauszeichnungen, nominiert.
Bereits zum Auftakt des litauischen Programms wird es musikalisch. Die spektakuläre Rock-Phantasmagorie „Eddie Aggregate oder Leben und Tod des unsterblichen Optimisten“ kombiniert Theater und Live-Musik, Rock und Steam-Punk mit der Suche nach dem ultimativen Glücksrezept. Sie strickt an der Legende, dass in einer post-apokalyptischen Zukunft in verschiedenen Teilen der Welt Relikte eines mythischen Mannes gefunden werden — des sagenumwobenen Propheten Eddie Aggregate, der berühmt für sein langes und glückliches Leben ist. Kann unter Anleitung von Eddie Aggregate das Glück wiedergefunden werden? Regisseur Aidas Giniotis und sein Team aus dem „seltsamen Theater“ (Keistuoliu teatras) stimmen mit musikalischen Experimenten, subtiler Absurdität und subversiver Ironie auf das Gastlandwochenende ein. ‹
Bildnachweis:
Simonas Svitra (Good Day); Ruslan Bolgov (Stabat Mater); Dainius Putinas (Lietaus); Martynas Jurkevicius (Aggregate)Heidelberger Stückemarkt
Neben spannenden Produktionen aus einem Gastland Litauen bietet der Heidelberger Stückemarkt aktuelle Inszenierungen aus dem gesamten deutschsprachigen Raum. Eine große Bandbreite an künstlerischen Handschriften, die das zeitgenössische Theater prägen. Neue, noch nicht aufgeführte Theaterstücke, gelesen von Schauspielern des Theaters Heidelberg. Theaterautoren von morgen im Wettbewerb um den Autorenpreis. Künstlergespräche, Publikumsdiskussionen und Partys.
Terminabgesagt
AdresseTheater und Orchester Heidelberg // Theaterstraße 10 // 69117 Heidelberg
SpielorteTheater und Orchester Heidelberg
Ticketsheidelberg.de