Reiss-Engelhorn-Museen

Blick in die Puppenstube

› Puppen sind politisch, Puppen erzählen etwas über die Welt, in der wir leben. Spätestens seit ausgerechnet ein Film über die Barbie alle Kinorekorde knackt, entzünden sich an der Puppe die unterschiedlichsten gesellschaftspolitischen Diskurse über Erziehung, Rollen- und Weltbilder. Die Reiss-Engelhorn-Museen werfen einen Blick in eine Zeit vor Barbie und Ken und nehmen dabei die Spielwelten um 1900 in den Blick. In der Ausstellung „Kinderträume“ sind rund hundert Puppenküchen, Puppenherde und Kaufläden aus der Zeit um die Jahrhundertwende zu sehen. Gemeinsam mit zahlreichen Alltagsgegenständen erzählen sie lebendig und anschaulich vom Leben unserer Vorfahren.
  • Freistehende Puppenküche mit Vorratsgefäßen und Geschirr aus Porzellan mit Zwiebelmusterdekor um 1900 © Jana Lupus
  • Jugendstil-Küche mit geschlossenem Herd und Anrichteraum weiß-blau dekoriert © Jana Lupus
„Die ersten Puppenküchen waren Bestandteil der großen, aufwendig ausgestatteten Puppenhäuser der Renaissance und des Barock“, erklärt Wilfried Rosendahl, Generaldirektor der Reiss-Engelhorn-Museen, der zusammen mit Eva-Maria Günther, Andreas Krock, Christoph Lind und Irmgard Siede die Schau kuratiert hat. „Diese Prestigeobjekte wohlhabender Erwachsener durften von Kindern jedoch meist nicht bespielt werden.“ Seit Ende des 18. Jahrhunderts kamen Puppenküchen und -stuben als Kinderspielzeug in Mode. Zunächst handelte es sich dabei um handwerklich gefertigte Einzelstücke für Mädchen finanziell gut situierter Schichten.

Die serielle Produktion der Puppenküchen setzte Mitte des 19. Jahrhunderts ein. Daneben wurden weiterhin einfache Exemplare nach Vorlagen im Eigenbau oder durch Schreiner gefertigt. Die damit einhergehende weite Verbreitung der Miniaturküchen führte langsam dazu, dass mehr Kinder, auch jene der weniger betuchten Bevölkerungsschichten in die Spielwelt eintauchen konnten, die in wohlhabenden Kreisen schon lange Zeit üblich war und zum festen Bestandteil der Kindheit gehörte.

Doch ganz gleich, welcher Schicht das spielende Kind, ergo Mädchen angehörte, die Puppenküche hatte einen ganz klaren erzieherischen Auftrag: „Als Spielzeug war die Puppenküche für Mädchen gedacht und sollte früh auf die kommenden Aufgaben im Haushalt vorbereiten“, so Rosendahl. Entsprechend detailliert und reichhaltig war das Zubehör, das die Ausstattung realer Küchen widerspiegelt. Nicht nur Materialien wurden von den Originalvorbildern übernommen, sondern auch technische Geräte gab es umgehend als Miniaturausgabe. Lediglich die Möbeltypen hielten sich länger als in der Realität. So wurden etwa Geschirre und Vorratsgefäße im Kleinen noch lange griffbereit auf offenen Regalen präsentiert, statt sie zeitgemäß wie im Großen in Schränken zu verstauen.
  • Weiß-blau gefasstes „Kaufhaus“ und mit zwei abgeschrägten Schaufenstern aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert. © Jana Lupus
  • Kaufladen mit aufklappbaren Schaufenstern aus der Zeit des Jugendstils um 1900. © Jana Lupus
  • Reich ausgestatter Kaufladen aus der Zeit um 1900 (Jana Lupus).
Gemäß den Ausführungen des Schulpädagogen Friedrich Dittes in der Tradition von Heinrich Pestalozzi und Adolph Diesterweg waren Puppen, Puppenstuben oder kleine Haushaltsutensilien das für Mädchen geeignete Spielzeug, um bei der weiteren Entwicklung voranzukommen. Sie dienten dem frühen Erlernen von Eigenschaften, die mit klassisch weiblichem Verhalten in Verbindung gebracht wurden: Häuslichkeit, Ordnungssinn, aber auch die Fähigkeit, den eigenen Hausstand zu schützen. Dies war für die Familie ebenso wichtig wie dafür zu sorgen, dass der vielbeschäftigte Ehemann von den Kleinigkeiten und Unannehmlichkeiten des Familienalltags verschont blieb. Insofern spiegelten sie im 19. Jahrhundert ebenso die bürgerlichen Lebensnormen und Werte ihrer Zeit und sollten Kindern als Vorbereitung auf spätere Rollen- und Verhaltensmuster dienen.

Dagegen erscheint das Spielzeug für Jungen schon variationsreicher: „Söhne aus gutsituierten Familien spielten mit Kaufläden, wurden aber ebenso für technische Entwicklungen oder sogar für den Krieg durch entsprechendes Spielzeug sensibilisiert“, erklärt Rosendahl. Dampfmaschine, Blecheisenbahn und Bausteinkästen zielten auf die technische Begabung und Geschicklichkeit ab. Nach Gründung des Kaiserreichs 1871 war die Rollenfixierung der Jungen zunehmend auf Militär und Tugenden wie Tapferkeit und Ehrenhaftigkeit ausgerichtet. Ritterburgen dienten zum Erlernen der Verteidigung, mit Zinn- oder Bleisoldaten wurden Schlachten nachgespielt.

Mit der Präsentation einer umfangreichen Auswahl historischer Puppenküchen und Kaufläden aus einer hochkarätigen Privatsammlung und historischen Spielzeugminiaturen und Originalobjekten aus den Sammlungen der Reiss-Engelhorn-Museen und von Leihgebern zeichnet die Schau ein facettenreiches Bild vom Spielen, Lernen und Leben um 1900 nach und schafft auch persönliche Bezüge, ist der Museumsdirektor überzeugt: „Als Kinder haben wir alle gespielt und jeder hat dazu Erinnerungen an die ganz eigenen Kinderträume“, so Rosendahl. Dennoch bleibt es eben nicht beim nostalgischen Blick in die Puppenstuben vergangener Zeiten. Die Miniaturwelten scheinen einer idealisierten Welt zu entspringen, bilden aber mehr Realität ab, als es auf den ersten Blick den Anschein hat. Die Besucher*innen erfahren mehr über Ausstattung, Speiseplan und Warenauswahl, aber auch über gesellschaftliche Themen wie Hygiene, Gesundheit, Industrialisierung und Kolonialismus. ‹

Info! Zur Ausstellung gibt es ein abwechslungsreiches Begleitprogramm für Erwachsene sowie Kinder und Familien. Angeboten werden unter anderem Lesungen, Workshops und Aktionstage. Termine unter kalender.rem-mannheim.de

Kinderträume für zu Hause — die reich bebilderte Begleitpublikation ist im Verlag Nünnerich-Asmus erschienen.


Kinderträume. Spielen — Lernen — Leben um 1900
bis 26. Mai 2024
rem-mannheim.de
Bildnachweis:
© Jana Lupus

Reiss-Engelhorn-Museen

Die Reiss-Engelhorn-Museen sind ein international agierender Museumsverbund mit vier Ausstellungshäusern im Herzen Mannheims. Ihr breites Sammlungsspektrum und ihre Sonderausstellungen vermitteln kulturgeschichtliche Vergangenheit und Gegenwart. Außerdem werden drei Forschungseinrichtungen betrieben. Mit all diesen Aktivitäten haben sich die Reiss-Engelhorn-Museen weit über die Region hinaus einen Namen gemacht.
AdresseReiss-Engelhorn-Museen // Museum Weltkulturen D5 // 68159 Mannheim // Telefon: 0621 2933150 // E-Mail: reiss-engelhorn-museen@​mannheim.de
ÖffnungszeitenDienstag bis Sonntag (auch an Feiertagen) 11–18 Uhr
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