Wilhelm-Hack-Museum

Aus dem Schatten

› Sonia Delaunay (1885–1979) war die erste Künstlerin, die noch zu Lebzeiten eine Retrospektive im Pariser Louvre erhielt. Damit ist sie eine der wenigen, die sich ähnliche Sichtbarkeit wie ihre männlichen Zeitgenossen verschaffen konnte. Mit dem Titel ihrer Autobiografie „Wir werden bis zur Sonne gehen“ (Original: „Nous irons jusqu’au soleil“) ist darum auch die Sonderschau im Wilhelm-Hack-Museum überschrieben. Sie möchte diese zu wenig gewürdigten Frauenfiguren in der Kunst des 20. Jahrhunderts, die „Pionierinnen der geometrischen Abstraktion“, sprichwörtlich aus dem Schatten ins Licht der Aufmerksamkeit holen.

Immer noch werden vor allem Namen wie Wassily Kandinsky, Kasimir Malewitsch oder Piet Mondrian mit der gegenstandslosen Malerei nach dem Ersten Weltkrieg in Verbindung gebracht. Mit der Ausstellung möchten die Macherinnen Astrid Ihle und Julia Nebenführ dieses einseitige Narrativ korrigieren. „Künstlerinnen waren weltweit zeitlebens an wichtigen Ausstellungen beteiligt, sie trugen zum theoretischen Diskurs bei, hinterließen ein einzigartiges Werk und haben die Ideen sogar oft radikaler als ihre männlichen Kollegen weiterentwickelt“, erklärt Kuratorin Astrid Ihle. „Das ist umso bemerkenswerter, als sie sich oftmals gegen Vorurteile und tradierte Rollenbilder behaupten mussten.“

Dennoch wurden viele weibliche Positionen von der Kunstgeschichte jahrzehntelang ignoriert oder marginalisiert. In den letzten Jahren hat es Ansätze gegeben, diesen männlich geprägten Blick zu revidieren. Hierzu möchte das Wilhelm-Hack-Museum einen Beitrag leisten und die Errungenschaften von Künstlerinnen in der ungegenständlichen Kunst von 1914 bis in die 1970er-Jahre in den Mittelpunkt rücken. „In diesem Zusammenhang wollen wir auch kritisch auf die hauseigene Sammlungs- und Ausstellungsgeschichte schauen, die sich der Entwicklung der gegenstandslosen Kunst im 20. Jahrhundert verschrieben hat“, berichtet Nebenführ. So seien auch im Wilhelm-Hack-Museum in themenverwandten Ausstellungen bislang nur wenige Werke von Künstlerinnen präsentiert worden. Eine Ausnahme bildet die Schau „Schwestern der Revolution. Künstlerinnen der Russischen Avantgarde“, die 2012/2013 zu sehen war und eine erste Auseinandersetzung mit den weiblichen Positionen dieser Epoche darstellte. „Daran wollen wir nun mit der aktuellen Sonderschau anknüpfen“, betont Kuratorin Nebenführ.

Die ersten Künstlerinnen der geometrischen Abstraktion kamen aus Russland. In den 1910er- und 1920er-Jahren trugen dort etwa Ljubow Popowa, Olga Rosanowa und Warwara Stepanowa maßgeblich zur gegenstandslosen Formensprache bei. Ihre Arbeiten und theoretischen Beiträge zu Farbe, Form und Konstruktion waren Teil eines utopischen Gesellschaftsentwurfs, der Kunst in alle Lebensbereiche integrieren wollte. Mit ihren Textilentwürfen sowie Bühnenbildern und -kostümen kamen sie diesem Ideal besonders nah.

Deutschland, Frankreich, Schweiz

Ähnliche Bestrebungen gab es auch am Bauhaus ab 1919. Obwohl Frauen zugelassen waren und Walter Gropius Gleichbehandlung versprach, waren sie in Praxis und Lehre unterrepräsentiert, besonders in Architektur, Bildhauerei und Malerei. Künstlerinnen wie Gunta Stölzl, Marianne Brandt, Alma Siedhoff-Buscher und Anni Albers arbeiteten hauptsächlich in der angewandten Kunst, die oft als weniger prestigeträchtig als die anderen Disziplinen wahrgenommen wurde. Dies sorgte dafür, dass ihre innovativen Beiträge zur geometrischen Abstraktion lange Zeit kaum beachtet wurden.
  • Anni Albers, Black White Gray, 1927 (Entwurf), 1964 (gewebt), Baumwolle, Seide, 156 x 121,5 cm, Neues Museum Nürnberg, Leihgabe der Stadt Nürnberg, Foto: Roman März, Berlin @ VG Bild-Kunst Bonn, 2024
  • Verena Loewensberg, Ohne Titel, 1947, Öl auf Leinwand, 48 x 48 cm, Aargauer Kunsthaus Aarau, Foto: Jörg Müller, © Verena Loewensberg Stiftung, Zürich
In den 1920er- und 1930er-Jahren war Paris ein bedeutendes Zentrum der abstrakt-konstruktivistischen Kunst. Durch Künstlervereinigungen, Ausstellungen und Zeitschriften fand ein reger internationaler Austausch statt, um die geometrische Abstraktion als universelle Sprache zu fördern. Die eingangs erwähnte Sonia Delaunay war eine Protagonistin. Ihre ab 1913 entwickelte Formensprache war in ihrer Malerei und ebenfalls in ihrer angewandten Kunst präsent. Sie schuf Stoffe, Kleider und Raumausstattungen, die sie über ein eigenes Unternehmen vermarktete. Delaunay war Mitglied der Gruppe Abstraction Création (1931–1937), zu der auch Sophie Taeuber-Arp, Katarzyna Kobro, Marcelle Cahn und Marlow Moss gehörten. Diese nahm etwa mit der Einführung der Doppellinie ein zentrales Element in Piet Mondrians Werk vorweg. Sophie Taeuber-Arp begann als Designerin und Innenarchitektin, bevor sie sich in den 1930er-Jahren der freien Kunst zuwandte. Ihre geometrische Abstraktion durchzog ihr gesamtes Werk, und sie förderte diese als Herausgeberin der Kunstzeitschrift plastique (1937–1939). Außerdem war sie Mitglied der Schweizer Gruppe allianz, zu der auch Verena Loewensberg gehörte, die als einzige Frau im engen Kreis der Zürcher Konkreten vertreten war.

Entwicklung im globalen Süden

Die geometrische Abstraktion war in Europa etabliert, als sich ab den 1940er-Jahren die Ideen global verbreiteten. „In Mittel- und Lateinamerika gab es eine interessante Entwicklung der geometrischen Abstraktion. Wir möchten neben den europäischen und russischen Künstlerinnen, auch auf Künstlerinnen im globalen Süden blicken“, erklärt Julia Nebenführ. In den 1950er-Jahren entstand in Brasilien der Neoconcretismo, der die europäische Formensprache aufgriff und gleichzeitig rigide Vorgaben ablehnte. Die Werke sollten den Raum und den menschlichen Körper einbeziehen und die Betrachter aktiv beteiligen. Lygia Pape und Lygia Clark waren zentrale Figuren und nutzten ihre Kunst als subversives Mittel gegen Missstände unter der Militärdiktatur. In Argentinien und Uruguay entwickelte sich ebenfalls eine eigenständige geometrische Abstraktion, mit Künstlerinnen wie Lidy Prati und María Freire. „Auch in diesem globalen Kontext lässt sich noch viel Neues entdecken“, verspricht Kuratorin Astrid Ihle. Wer sich im Wilhelm-Hack-Museum also auf diese Reise in die geometrischen Kunstwelten begibt, kann feststellen, dass auch eine auf den ersten Blick bereits ausgiebig rezipierte Stilrichtung noch lange nicht auserzählt ist. ‹

Wir werden bis zur Sonne gehen. Pionierinnen der geometrischen Abstraktion
16.11.2024 bis 21.04.2025
wilhelmhack.museum
Bildnachweis:
Judith Lauand, Acervo 9, abstratos cósmicos, 1953, Wolle, 57 x 68 cm, Courtesy: ArtVest Ltd / Cecilia Brunson Projects, Foto: Lucy Dawkins, © VG Bild-Kunst Bonn, 2024.( Bild 1)
Vera Molnar, Ohne Titel, 1945/50, Gouache, 49 x 63,5 cm, Sammlung Stadler, Munich, Foto: Linde Hollinger, Ladenburg, © VG Bild-Kunst Bonn, 2024Vera Molnar, Ohne Titel, 1945/50, Gouache, 49 x 63,5 cm, Sammlung Stadler, Munich, Foto: Linde Hollinger, Ladenburg, © VG Bild-Kunst Bonn, 2024

Wilhelm-Hack-Museum

Wahrzeichen des Wilhelm-Hack-Museums ist seine Keramikfassade, die Joan Miró 1980 gestaltete. Heute gilt das Haus als das wichtigste Museum für die Kunst des 20. und 21.Jahrhunderts in Rheinland-Pfalz. Seine Schwerpunkte liegen auf der Klassischen Moderne, aber auch auf der konstruktiv-konkreten Kunst nach 1945. Profilierte Sonderausstellungen, Workshops und ein breit gefächertes Veranstaltungsprogramm machen das Museum zu einem kulturellen Zentrum von Ludwigshafen.
TerminSA 16. November 2024 bis MO 21. April 2025
AdresseWilhelm-Hack-Museum // Berliner Straße 23 // 67059 Ludwigshafen // Telefon 0621 5043045 // E-Mail: hackmuseum@ludwigshafen.de
ÖffnungszeitenDienstag, Mittwoch & Freitag 11–18 Uhr // Donnerstag 11–20 Uhr // Samstag, Sonntag & Feiertage 10–18 Uhr
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