Kunsthalle Mannheim

Eine Ausstellung macht Epoche

› Eigentlich plante der junge Kunsthallen-Direktor Gustav F. Hartlaub (1884–1963) schon 1923 mit Antritt seiner Direktion eine Ausstellung, die die neue Strömung zum Thema haben sollte, die er in der zeitgenössischen Kunst beobachtete. Den Begriff „Neue Sachlichkeit“ verwendete er bereits 1922 in einer Umfrage in der Zeitschrift „Das Kunstblatt“. Nicht zuletzt aufgrund der wirtschaftlich und politisch schweren Zeiten — die Gesellschaft des Nachkriegsdeutschlands der frühen 1920er-Jahre war von Armut und Arbeitslosigkeit sowie von politischer und sozialer Spaltung geprägt — konnte Hartlaub sein Vorhaben einer Ausstellung mit einer solchen Tragweite zunächst nicht umsetzen.
  • Kunsthalle Mannheim Neue Sachlichkeit arno henschel
    Arno Henschel: Dame mit Maske, 1928, Kulturhistorische Museen Görlitz, Foto: Görlitzer Sammlungen
  • Kunsthalle Mannheim Neue Sachlichkeit otto dix
    Otto Dix: Die Irrsinnige, 1925 © VG Bild-Kunst, Bonn 2024. Kunsthalle Mannheim. Foto: Kunsthalle Mannheim
Unabhängig von dem Ausstellungsprojekt erlebte der Begriff Konjunktur und etablierte sich als Bezeichnung für einen neuen Stil, der in Kunst, Architektur und Literatur zu beobachten war und der sich durch Rationalität und Präzision auszeichnete. Hartlaub selbst unterschied zwei Flügel: eine konservative, an Renaissance, Klassizismus und den Nazarenern orientierte Malerei und eine veristisch-sozialkritische Richtung, als deren Hauptvertreter George Grosz und Otto Dix gelten. „Er schuf damit einen Vereinbarungsbegriff, mit dem durchaus heterogene Stile zusammengefasst wurden, die aber alle in Abgrenzung zum Expressionismus zu verstehen waren und die einem gewissen Zeitgeist Rechnung trugen“, erklärt Inge Herold, Kuratorin der Ausstellung „Die Neue Sachlichkeit — Ein Jahrhundertjubiläum“.

Ab November steht in der Kunsthalle diese für das Museum und für die gesamte Kunstwelt so bedeutsame Schau im Mittelpunkt. „Wir möchten zum einen die damalige Leistung würdigen, zum anderen sie kritisch hinterfragen und ergänzen“, erklärt Herold. „So war damals in der Schau zum Beispiel keine einzige Malerin vertreten. Deshalb zeigen wir, wie Künstlerinnen, wie Kate Diehn-Bitt, Lotte Laserstein, Jeanne Mammen oder Anita Rée, die Kunst prägten.“
  • Kunsthalle Mannheim Neue Sachlichkeit anita ree
    Anita Rée: Halbakt vor Feigenkaktus, 1922-1925 © Hamburger Kunsthalle / bpk, Foto: Elke Walford
In den Jahren bis zur tatsächlichen Ausstellung tätigte Hartlaub diverse Ankäufe. Als er 1925 die Ausstellung schließlich realisierte und unter dem Titel „Die Neue Sachlichkeit. Deutsche Malerei seit dem Expressionismus“ 32 Künstler mit rund 130 Gemälden präsentierte, befand sich die Wirtschaft in der Weimarer Republik bereits wieder im Aufschwung. „Es setzte, auch in der Kunst, eine Art Beruhigung ein: Die ganz drastischen sozialkritischen Darstellungen aus den frühen 1920er-Jahren waren in der Ausstellung gar nicht vertreten“, berichtet Herold. Das tat dem enormen Erfolg der Schau, die danach noch in Dresden, Chemnitz, Erfurt und Dessau zu sehen war, jedoch keinen Abbruch. „Auch wenn Hartlaub sich bei den letzten Stationen von der Schau distanzierte, weil sie mit seiner nur noch wenig zu tun hatte, zeigt dies, wie groß das Interesse war und wie sehr er den Nerv der Zeit getroffen hatte“, betont die Kuratorin.

Die Ausstellung 2024 schließt mit dem Versuch einer Rekonstruktion der damaligen Schau eine Forschungslücke. „Wir hatten nur einen spärlichen Katalog und die Korrespondenz, um uns der historischen Ausstellung anzunähern“, erläutert Herold. „Deshalb sind wir nun sehr stolz, dass wir alle uns bekannten Werke in einer Datenbank zur Verfügung stellen können. Immerhin 25 werden wir auch als Originale zeigen.“ Der detaillierte Blick in die Ausstellung von 1925 erfolgt also vor allem in digitaler Form, da viele der Objekte heute entweder zerstört, nicht ausleihbar oder unauffindbar sind. Rund 230 Arbeiten von fast 120 Künstler*innen von nationalen und internationalen Leihgeber*innen sowie aus der eigenen Sammlung sind insgesamt zu sehen.

Themenvielfalt und historische Entwicklungen

Dabei stehen Themen wie das Zeitgeschehen, der Alltag der Menschen, die Industrialisierung, eine neue Mobilität, das Menschen- und Frauenbild, Stillleben und Landschaft im Mittelpunkt, die diese Epoche als eine der Umbrüche und Kontraste charakterisieren. Interessante Verknüpfungen werden etwa zwischen zeitgenössischen Schaufensterpuppen und der Repräsentation von Körperbildern und Mode in der Kunst geschaffen. „Auch stammen aus jener Zeit viele Selbstporträts. Diese gründliche Selbsterforschung kann als Reaktion auf die politische und soziale Instabilität gelesen werden“, betont Herold.
  • Kunsthalle Mannheim Neue Sachlichkeit hanna höch
    Hannah Höch, Gläser, 1927© Hessen Kassel Heritage, Neue Galerie
    Sammlung der Moderne, Foto: Ute Brunzel VG Bild-Kunst, Bonn 2024
Es war unter anderem diese Instabilität, die dann in den 1930er-Jahren in die Apokalypse des NS-Regimes führte. Auch in diese Zeit wirft die Ausstellung einen Blick und betrachtet die weitere Entwicklung der Neuen Sachlichkeit. Hartlaub selbst hatte mit seiner, nicht ohne Ironie betitelten, Ausstellung „Deutsche Provinz (Erster Teil) — Beschauliche Sachlichkeit“ bereits ein kritisches Update über aktuelle Entwicklungen gewagt — es war sein letztes Ausstellungsvorhaben vor seiner Amtsenthebung durch die Nationalsozialisten im März 1933.

Neben der Möglichkeit, heute fast vergessene Künstler*innen zu entdecken, werden auch besondere Highlights in dieser Jubiläumsschau zu sehen sein. Zum Beispiel kehrt Max Beckmanns „Christus und die Sünderin“ (1917) aus dem Saint Louis Art Museum nach Mannheim zurück. Das Werk gehörte einst zur Sammlung, bevor es von den Nazis beschlagnahmt wurde und nach dem Krieg in den USA landete. Und auch wenn Hartlaub noch nicht vollumfänglich die internationale Dimension der von ihm beschriebenen Kunstrichtung würdigte, wird dies die kommende Ausstellung nachholen und eine Reihe von exemplarischen Werken als neusachlich zu begreifender Kunst aus Italien, Großbritannien, den Niederlanden, Österreich, der Schweiz und den USA zeigen. Mit dabei ist da auch einer der ganz großen US-amerikanischen Maler: Edward Hopper mit „Night Windows“ aus dem Jahr 1928. ‹

Die Neue Sachlichkeit. Ein Jahrhundertjubiläum
22. November 2024 bis 09. März 2025
Kunsthalle Mannheim
kuma.art
Bildnachweis:
George Grosz: Porträt des Schriftstellers Max Herrmann-Neiße © Estate of George Grosz, Princeton, N.J. / VG Bild-Kunst, Bonn 2024 (Kunsthalle Mannheim / Cem Yücetas)
Karl Hubbuch, Lissy im Café, 1930/32 © Karl Hubbuch Stiftung / Städtische Galerie Karlsruhe 2024
Foto: Heinz Pelz, Karlsruhe

Kunsthalle Mannheim

Die Kunsthalle Mannheim zählt mit ihren Spitzenwerken von Edouard Manet bis Francis Bacon und ihrem Skulpturenschwerpunkt zu den renommiertesten Sammlungen von deutscher und internationaler Kunst der Moderne und der Gegenwart. Hochkarätige Sonderschauen internationaler zeitgenössischer Kunst vervollständigen das Ausstellungsprogramm. Gezeigt werden sie im Kerngebäude, dem imposanten, frisch sanierten Jugendstilbau von Hermann Billing aus dem Jahre 1907. Bis 2017 entsteht außerdem ein zukunftsweisender Neubau, der die Ausstellungsfläche um rund 1.300 Quadratmetern erweitert.
AdresseKunsthalle Mannheim // Friedrichplatz 4 // 68165 Mannheim // Tel. 0621 293 6413 // kunsthalle@mannheim.de
ÖffnungszeitenDienstag bis Sonntag 10–18 Uhr, Mittwoch 10–20 Uhr, 1. Mittwoch im Monat 18-22 Uhr (freier Eintritt)
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