› „Das Wesen der gesamten Photographie ist dokumentarischer Art“, so sagte August Sander in einem seiner Vorträge, die der Fotograf 1931 im Westdeutschen Rundfunk hielt, und formulierte damit einen Leitsatz für seine Arbeitsweise. Gerade die in ihren Anfängen als technoides und seelenloses Medium in der Kunst abgelehnte Fotografie vermochte die Realität möglichst unmittelbar und ungeschönt einzufangen und traf in den 1920er-Jahren den Nerv der Zeit.
„Technische Neuerungen trafen auf das Lebensgefühl der Weimarer Republik“, betont Claude W. Sui, Leiter des Forums Internationale Photographie der Reiss-Engelhorn-Museen und Kurator der Schau SACHLICH NEU. Die Stimmung war geprägt von der Erfahrung des Ersten Weltkriegs und der anschließenden wirtschaftlichen und sozialen Misere. Die Zerrissenheit jener Jahre voller Umbrüche und Gegensätze führte zu Ernüchterung. Die Kunstschaffenden waren auf der Suche nach neuen Inhalten und Ausdrucksmöglichkeiten und wollten sich abgrenzen von der Subjektivität und der Fantasie des Expressionismus, indem sie nach Klarheit und Objektivität strebten. An die Stelle einer gefühlsbetonten Bildsprache rückte die Abbildung der nüchternen Wirklichkeit. Für diese neue Stilrichtung prägte Gustav Friedrich Hartlaub, der damalige Direktor der Mannheimer Kunsthalle, den epochemachenden Begriff „Neue Sachlichkeit“. Dieser neue sachliche Blick auf die Welt dominierte nicht nur die Malerei, sondern spiegelte sich auch in anderen Kunstgattungen wie Grafik, Architektur, Design, Literatur und eben der Fotografie wider. „Mit einer Vorliebe für klare Kompositionen, ungewöhnliche Perspektiven und messerscharf herausgearbeitete Details wurden Menschen, Natur, Städte, Industriebauten und Alltagsgegenstände dokumentiert“, erklärt Sui. Neue Möglichkeiten eröffneten zudem Innovationen wie Kleinbildkameras und Rollfilme, die in den 1920er-Jahren die Fotografie revolutionierten.Zwei Pioniere der Neuen Sachlichkeit in der Fotografie waren der eingangs erwähnte August Sander (1876–1964) sowie Albert Renger-Patzsch (1897–1966). In der Ausstellung sind Werke beider Fotografen zu sehen. Sander gilt mit seinem breit angelegten enzyklopädischen Werk „Menschen des 20. Jahrhunderts“ als Chronist seiner Zeit. Dank exakter Beobachtung gelang es ihm, ganz unterschiedliche Menschen als Repräsentanten ihres Berufsstandes oder ihrer Gesellschaftsschicht zu porträtieren — von Politiker und Arzt über Sekretärin und Konditormeister bis hin zu Gymnasiastin und Kohleträger. Während bei Sander der Fokus auf Porträts lag, wirkte Albert Renger-Patzsch mit seinen Landschaftsbildern und Stillleben stilbildend. Vor allem seine Aufnahmen von Fabrikanlagen, Zechen, Maschinen und Brücken inspirierten nachfolgende Fotografen-Generationen. Mit seinem 1928 erschienenen Buch „Die Welt ist schön“ schuf er ein fotografisches Manifest der Neuen Sachlichkeit.
Ausgewählte Werke von Sander und Renger-Patzsch stehen in der Ausstellung Aufnahmen von Robert Häusser (1924–2013) gegenüber. Häussers Archiv gehört bereits seit 2003 dem Forum Internationale Photographie. „Mit dem hundertsten Geburtstag dieses so wichtigen Künstlers und als Beitrag zum Themenjahr Neue Sachlichkeit ist es der perfekte Zeitpunkt, um diese drei bedeutenden Fotografen in der Zusammenschau zu zeigen“, ist Claude W. Sui überzeugt. Häusser gehörte der nächsten Generation von Fotografen nach Sander und Renger-Patzsch an. „Die Motive sind auf das Wesentliche reduziert und zeigen eindeutige Bezüge zum Stil der Neuen Sachlichkeit“, erklärt Claude W. Sui. Häussers Themenwahl, die der der beiden Fotografen der Neuen Sachlichkeit ähnelt, war, wie sein Schaffen allgemein, geprägt von den einschneidenden Erfahrungen des Krieges — in seinem Fall des Zweiten Weltkrieges. Bei allen Parallelen zeigen seine Werke aber eine ganz eigene Handschrift, die eine Nähe zum Surrealismus und Magischen Realismus aufweist. Neben dem Offensichtlichen schwingt bei Häusser etwas Hinter- und Abgründiges mit. Häusser wurde so zum Vorreiter der Nachkriegsfotografie und zum Klassiker der Moderne.
Die nun gezeigte Ausstellung stellt Verbindungen zwischen den Fotografien der drei Künstler her und konzentriert sich auf die Themen „Porträt und Menschendarstellungen“, „Industrie und Menschen bei der Arbeit“ sowie „Landschaftsräume“. Darüber hinaus geben die rund 180 gezeigten Bilder umfangreiche Einblicke in die verschiedenen Werkphasen der Protagonisten. ‹SACHLICH NEU. Fotografien von August Sander, Albert Renger-Patzsch und Robert Häusser
bis 27. April 2025
rem-Stiftungsmuseen C4,12
rem-mannheim.de
bis 27. April 2025
rem-Stiftungsmuseen C4,12
rem-mannheim.de
Bildnachweis:
Albert Renger-Patzsch: Kühe an der Ruhrmündung, Duisburg-Ruhrort, 1930© Albert Renger-Patzsch Archiv / Ann und Jürgen Wilde, Zülpich / VG Bild-Kunst, Bonn 2024
Reiss-Engelhorn-Museen
Die Reiss-Engelhorn-Museen sind ein international agierender Museumsverbund mit vier Ausstellungshäusern im Herzen Mannheims. Ihr breites Sammlungsspektrum und ihre Sonderausstellungen vermitteln kulturgeschichtliche Vergangenheit und Gegenwart. Außerdem werden drei Forschungseinrichtungen betrieben. Mit all diesen Aktivitäten haben sich die Reiss-Engelhorn-Museen weit über die Region hinaus einen Namen gemacht.
AdresseReiss-Engelhorn-Museen // Museum Weltkulturen D5 // 68159 Mannheim // Telefon: 0621 2933150 // E-Mail: reiss-engelhorn-museen@mannheim.de
ÖffnungszeitenDienstag bis Sonntag (auch an Feiertagen) 11–18 Uhr
Infoswww.rem-mannheim.de