Industrietempel

Die Schachtspieler

Ende der 1980er-Jahre: Industriebrachen, leere Bunkerräume, modrige Keller, verlassene Fabrikhallen. Inspiriert von der Hausbesetzer-Szene in Amsterdam, wohin es ihn für seinen Zivildienst zwischenzeitlich verschlagen hatte, kommt Thomas Reutter, zurück in seiner Heimatstadt Mannheim, mit ein paar Freunden auf die Idee, leerstehende Räume temporär zu nutzen. Anfangs geht es um eine fette Party, allerdings schon ganz modern mit Videobeamer. „Die längst abgerissenen Strebelwerke auf der Friesenheimer Insel waren unsere Location“, erinnert sich der hauptberuflich als Redakteur beim SWR arbeitende Reutter.

Ein loser Haufen aus Kreativen

Von Seiten der Verwaltung hieß es damals, dass es einer Vereinsgründung bedürfe, um Veranstalter zu sein. Kein Problem für die Gruppe aus Freund*innen und Familienmitgliedern — Reutters Vater und Mutter sind von Anfang an mit dabei, mittlerweile sogar sein Sohn Leander –, die sich kurzerhand 1989 zum Verein Industrietempel zusammenschloss. Bis heute sind die Industrietempler über die sieben Gründungsmitglieder hinaus ein loser Haufen aus Kreativen — vom Lichtkünstler Raimund Becker über die Theatermacherin Antje Reinhard bis hin zur Sängerin Antje Krause. „Sobald man sich als Industrietempler bezeichnet, gehört man dazu“, sagt Reutter und lacht.

Unbespielbare Orte bespielen

Sicher liege darin auch der Schlüssel zur Langlebigkeit des Vereins, der in diesem Jahr sein 35-jähriges Bestehen feiert: maximale Freiheit und keine routinierten Abläufe. Mal entdecke jemand zufällig einen interessanten Ort, mal gibt es eine Idee und dann folgt die Suche nach der passenden Location und auch nach Gruppen oder Einzelkünstler*innen, die ein bestimmtes Projekt (mit)umsetzen. „Wir sind angetreten mit einem gewissen denkmalschützerischen Anspruch, der Neugier, verborgene Ecken zu entdecken, sowie der Lust daran, eigentlich unbespielbare Orte zu bespielen.“ Paradebeispiel für einen solch unwirtlichen Ort war die Aktion „Schächte des Lichts“ im Jahr 2018. Die teilnehmenden Künstler*innen performten in Abluftschächten unter dem Gehweg mitten in der Innenstadt. „Es war gar nicht so leicht, Leute für diese Idee zu begeistern, denn die jeweiligen Performances, Installationen und Objekte konnten ja nur von oben eingesehen werden.“

Von der Waschanlage ins Technische Rathaus

Doch geht nicht, gibt’s nicht, ist ein Motto, das dem Verein Industrietempel sowieso gut zu Gesicht steht. Während die Spielorte, die noch nach klassischer Industrieromantik riechen, immer mehr zusammenschrumpfen, gehen den Macher*innen die Ideen für ungewöhnliche Locations nicht aus, wie etwa bei der Aufführung „Tanktempel“ (Foto) in einer gigantischen Autowaschanlage oder zuletzt mit dem Stück „Meritokratie“ im Neuen Technischen Rathaus, einem der jüngsten stadtbildprägenden Großbauten Mannheims. Zahlreiche Hausherr*innen haben dem Verein Industrietempel Tür, Tor und Kellerraum für ihre ungewöhnlichen Aktionen geöffnet, diese Unterstützung sei unbezahlbar, so Reutter. Als Nächstes träumt er vom Schloss Mannheim, genauer vom Antikensaal, Projektionen auf den Büsten würden sich da sicher gut machen.

INDUSTRIETEMPEL e.V.
www.industrietempel.de
Bildnachweis:
Verein Industrietempel;

INDUSTRIETEMPEL e.V.

Unter dem Motto „Außergewöhnliche Projekte an außergewöhnlichen Orten“ bespielen die Mitglieder des Industrietempels seit 1989 alte Industriegebäude und andere ungewöhnliche Örtlichkeiten in der Kulturregion Rhein-Neckar — mit Musik-, Tanz, Kunst- und Video-Installationen. Stand am Anfang das reiche Erbe Mannheims an Fabrikräumen aus der Zeit der Industrialisierung im Fokus, hat der Industrietempel sich in den letzten Jahren weiter diversifiziert — und auch Orte wie Bunker, Waschanlagen oder Müllverbrennungsanlagen ins Visier genommen.
AdresseINDUSTRIETEMPEL e.V. // Kleinfeldstraße 50 // 68165 Mannheim // E-Mail: buero@industrietempel.de // Telefon: 0621 - 444736
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