Marchivum

Tanz auf dem Vulkan

Exzessive Partys, Amüsement an jeder Ecke, Halbwelt und schillernde Charaktere — der Hedonismus der Zwischenkriegsjahre ist legendär. Spätestens seit dem Erfolg der Serie „Babylon Berlin“ sind die sogenannten Goldenen Zwanziger Jahre oft mit einem einzigen rauschhaften Taumel assoziiert. Und auch in Mannheim pulsierte das wilde Leben: Rund zwanzig Lichtspielhäuser sowie zahlreiche Kneipen, Kleinkunstbühnen und Varietés sorgten dafür, dass den Mannheimer*innen nicht langweilig wurde.

Sozialer Wohnungsbau und Achtstundentag

Das Capitol in der Neckarstadt-West — 1927 als Kino erbaut — ist bis heute noch ein backsteinernes Zeugnis dieser kulturellen Blüte. Aber damit nicht genug, tatsächlich sind diese Jahre so reich an Neuerungen und Veränderungen, dass sie bis heute nachwirken. Sozialer Wohnungsbau, neue Formen der Pädagogik und der Krankenversorgung, Achtstundentag und technische Innovationen legen die Grundfesten für vieles, was uns bis heute prägt. Das MARCHIVUM gibt mit der Sonderausstellung „Wie Tag und Nacht — Leben in den Goldenen Zwanzigern“ Gelegenheit, all dies zu entdecken. „Der Fokus liegt auf dem kurzen Zeitraum zwischen 1924 bis 1929, also der Zeit zwischen den großen politischen und wirtschaftlichen Krisen“, erklärt Historikerin Anja Gillen. Sie gehört zum siebenköpfigen Team, das die Schau anlässlich des Jahrhundertjubiläums zur Neuen Sachlichkeit kuratiert hat. „Wir widmen uns dem Alltagsleben der Menschen und erzählen dies exemplarisch entlang eines Tages und einer Nacht.“
  • Konsumtempel im Licht — Das Warenhaus Kander in T 1 lockt die Kund*innen im Jahr 1928 mit den neuen Möglichkeiten der Illumination.© MARCHIVUM
  • Gemeinsames Radiohören in der Mannheimer Oststadt, 1926, © MARCHIVUM
  • Auszubildende des progressiven Fröbelseminars, einem Ausbildungsseminars für Erzieherinnen, 1927 bei einem Ausflug am Rhein.© MARCHIVUM
Am Anfang stehen die Aufgaben und Pflichten der Tagstunden und damit Themen wie Arbeit, aber auch Arbeitslosigkeit, Freizeit, Kinder und Jugendliche sowie Bildung. „Wir beschäftigen uns zum Beispiel mit Rosa Grünbaum, Leiterin des Mannheimer Fröbelseminars, einem Ausbildungsseminar für Erzieherinnen, wo es verstärkt um kindgerechte Erziehung geht“, erklärt Gillen. Geprägt ist die Zeit vom Aufbau eines Sozialsystems und richtungsweisenden baulichen Ideen. So entstehen in Mannheim gleich drei Krankenhäuser, darunter das heutige Universitätsklinikum und das Theresienkrankenhaus. Große Mietshauskomplexe wie die Erlenhof-Siedlung werden erbaut und auch innovative Bauten wie das erste kommunale Planetarium — damals im Luisenpark –, die Friedrich-Ebert-Brücke oder das Großkraftwerk werden in dieser Zeit errichtet und in Betrieb genommen. „Es sind Aufbruchsjahre“, beschreibt Gillen die Zeit. „In allen möglichen Bereichen wird von ‚neu‘ gesprochen, da fügt sich der Ausstellungstitel Neue Sachlichkeit für die Schau in der Mannheimer Kunsthalle nahtlos ein.“

Atmosphärisch und informativ

Dieser Aufbruchsgeist soll sich auch durch die Schau ziehen. „Die Weimarer Republik wird immer von ihrem Ende her betrachtet, von der Katastrophe“, ergänzt Karen Strobel, die ebenfalls zum Ausstellungsteam gehört. „Wir wollen aber auch das Optimistische, das Fortschrittliche zeigen. Der Ausstellungsbesuch soll Spaß machen und das Lebensgefühl der Zeit transportieren.“ So arbeiten die Macher*innen auch bewusst atmosphärisch mit vielen Details — etwa beim Anbruch der Dämmerung: „Die Menschen gehen nach Hause und wir ermöglichen einen Blick in ihre Wohnzimmer“, verrät Gillen.

Durch Gucklöcher können die Besucher*innen verschiedene Lebenswelten erkunden — von der Baracke über die Mietswohnung bis hin zur schicken Bauhaus-Villa. Was kommt auf den Esstisch? Wie wird sich der Feierabend vertrieben — mit der Zeitung oder hat der neueste Schrei, das Radiogerät, schon Einzug gehalten? Ein ausgeklügeltes Lichtkonzept führt schließlich in die Nacht-Sektion der Schau. Neben dem Nachtleben stehen dort auch die Themen Konsum und Wirtschaft im Mittelpunkt. „Wir sind hier von den illuminierten Schaufenstern der Warenhauspaläste ausgegangen“, erzählt Gillen. Die Elektrizität befindet sich im Aufschwung, die Lichtreklame ist neu und alles, was funkelt und glitzert, gilt als attraktiv. 1929 gipfelt diese Faszination im Fest „Mannheim im Licht“, einem riesigen Event, bei dem die ganze Stadt illuminiert und die Elektrizität regelrecht zelebriert und touristisch vermarktet wird.

Blick ins Verborgene

Doch wo Licht ist, ist auch Schatten. „Wir widmen uns auch all dem, was im Verborgenen geschehen ist“, erläutert Strobel. „Es geht um Entwicklungen im Polizeibereich, um forensische Methoden sowie Kriminalfälle und Illegales.“ Dabei rückt die neue Rolle der Frau in den Fokus. Zum einen mit Blick auf die Polizei, wo Frauen nun zum Dienst zugelassen sind, zum anderen geht es ebenfalls um die Emanzipation in Verbrechenskreisen. Ein Zeitungsausschnitt bescheinigt dem weiblichen Geschlecht, dass es sich längst von dem Status der Ladendiebinnen in die Riegen der männlichen Kollegen vorgewagt habe — Hochstaplerinnern, Einbrecherinnen, Fassadenkletterinnen zeugen laut dem Beitrag von diesem beunruhigenden Trend.

Zuletzt ist auch die Neugründung des Ortsvereins der NSDAP im Jahr 1925 in der Nacht verortet. „Nicht selten werden die Zwanziger als Tanz auf dem Vulkan beschrieben“, resümiert Gillen. „Der leider mit einem Ausbruch und damit der Katastrophe endete.“ Bei aller Innovationskraft war das System doch sehr fragil, Neuerungen noch nicht etabliert. Und dann kam die Weltwirtschaftskrise und mit ihr bahnten sich die faschistischen Kräfte ihren Weg an die Macht. Auslöschen konnten diese die Innovationskraft dieser Jahre aber mitnichten — wer sich selbst davon überzeugen möchte, der kann dies ab sofort im MARCHIVUM tun. ‹


Wie Tag und Nacht — Leben in den Goldenen Zwanzigern
bis 11. Mai 2025
MARCHIVUM
marchivum.de
Bildnachweis:
Die Tiller Girls bei einem ihrer Auftritte, 1920er-Jahre, © MARCHIVUM

MARCHIVUM

Hier wird Mannheims Geschichte bewahrt und für die Zukunft gesichert. Dafür wurde Mannheims größter Hochbunker spektakulär umgebaut und der Bau in das Förderprogramm „Nationale Projekte des Städtebaus“ aufgenommen. Das MARCHIVUM steht auf drei Säulen: das Archiv mit seinen umfangreichen Sammlungen und Beständen; die Bereiche Forschung, Bildung und Vermittlung sowie Ausstellungsprojekte zur Stadtgeschichte und NS-Zeit.
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