Enjoy Jazz

Die große Sause

› Lassen Sie uns eine kleine Zeitreise machen, zurück ins Jahr 1999: Damals gab es noch die D-Mark, Gerhard Schröder regierte, Johannes Rau wurde zum Bundespräsidenten gewählt, die Berliner Republik war neu und aufregend, Bayern München natürlich wieder Meister, und die Lustangst ging um, dass die Computersysteme den Millenniumswechsel versemmeln und geschlossen zusammenbrechen könnten und der Erdball im Chaos versinken würde. Mit anderen Worten: Die weltpolitischen Sorgen hielten sich in Grenzen, es war eine einigermaßen gute Zeit, auch um kurz vor der Jahrtausendwende noch eine kühne Unternehmung zu starten, deren rasante Entwicklung sich wohl nicht einmal der dahintersteckende Kopf hätte träumen lassen.

Tanzen bis zum Morgengrauen

Am 1. Oktober stand die Band Nightmares on Wax auf der Bühne des Heidelberger Karlstorbahnhofs und eröffnete das allererste, von Rainer Kern ins Leben gerufene Enjoy Jazz Festival. Es folgten damals 13 weitere Konzerte. Und im Laufe der nächsten Jahre weit mehr als 1000. Nun feiert Enjoy Jazz ein Jubiläum, die stolze 25. Ausgabe, und wo sollte diese fünf Wochen dauernde Party anders starten als im neuen Karlstorbahnhof: Am 2. Oktober wird das gesamte Gebäude bespielt, es gibt Musik — mit der deutsch-iranischen Sängerin und Pianistin Cymin Samawatie, mit dem US-amerikanischen Schlagzeuger Kahil El’Zabar. DJs werden dafür sorgen, dass die Nacht sehr, sehr lang und der Dancefloor sehr, sehr voll wird, und wer zwischendurch eine Pause braucht, kann sich im Kino den afro-futuristischen Science-Fiction-Musical-Film „Neptune Frost“ anschauen oder die Performance „We in a Box“ erleben.

Allerdings sollte man seine Kräfte auch ein bisschen einteilen, denn beim Blick ins Programm der folgenden fünf Wochen dürfte es Musik-Aficionados schwerfallen, einen Ruhetag einzulegen: Auf keinen Fall verpassen darf man die grandiose New Yorker Altsaxofonistin Lakecia Benjamin, der es bei Konzerten gelingt, John Coltranes „A Love Supreme“ so zu spielen, als würde man es zum ersten Mal hören. Für ihr letztes Album hat die Black-Power-Aktivistin Angela Davis übrigens eigens einen Text geschrieben und eingesprochen.
  • enjoy jazz mono neon
    Gratulant*innen: Mehr als 50 Konzerte stehen bei Enjoy Jazz wieder auf dem Programm, darunter der Bassist Mono Neon, den das Winter Jazzfest New York präsentiert, …
  • enjoy jazz lucia cadotsch
    … die Schweizerin Lucia Cadotsch (Foto: Dovile Sermokas) mit ihrem Projekt AKI …
  • enjoy jazz nil petter molvaer
    oder die norwegische Legende Nils Petter Molvaer (Roberto Cifarelli).
Ebenso wenig sollte man Aki Takase mit ihrem Projekt Japanic versäumen, verspielt-frischer „High-Energy-Free-Jazz“. Oder Lokalmatadorin Alexandra Lehmler, die Jan Bang und Vincent Courtois mitbringt — allesamt eng verbandelt mit dem Festival. Natürlich ist es schön, bei einer Jubiläumsausgabe bekannte Gesichter zu sehen — ob Nik Bärtsch, Anja Lechner, Sebastian Gramss, Anke Helfrich, Jason Moran oder Erwin Ditzner. Aber über neue Gäste freut man sich ebenso: Die Sängerin Lucia Cadotsch, Gewinnerin des Deutschen Jazzpreises 2021, ist mit ihrem Projekt Aki in der Alten Feuerwache zu Gast, der Bildende Künstler und Musiker Lonnie Holley, fast schon ein Mythos, beehrt Enjoy Jazz ebenfalls zum ersten Mal.

Sieben Festivals zu Gast

Ganz viel Ungehörtes zu entdecken gibt es in der Woche der Festivals, ein besonderes Jubiläumsgeschenk, das Rainer Kern sich und uns macht: „Unconditional Love — Intercontinental Festival Takeovers“, so der offizielle Titel. Enjoy Jazz hat sich in diesem Jahr erstmals ein Motto gegeben, „Trust“ nämlich. Vertrauen hat viele Facetten — da geht es um das künstlerische Programm, um die Beziehung zum Publikum und des Publikums zum Festival, um das Vertrauen ins Gelingen selbstverständlich auch.

Im Laufe der Zeit haben sich zudem vertrauensvolle Freundschaften zu Veranstalter*innen weltweit gebildet, die Rainer Kern nun zur Geburtstagsfete eingeladen hat. Sieben renommierte, außergewöhnliche Festivals verlegen ihren Standort nun für je einen Abend in die Metropolregion. Jedes hat Gelegenheit, sich und seine Arbeit vorzustellen — und aufregende, innovative, das jeweilige Festival repräsentierende Künstler*innen mitzubringen. Dabei sind das EFG London Jazz Festival, das uns „Moment’s Notice“ vorstellt, das Summertime Tel Aviv JazzFest mit dem Nigun Quartet sowie das Winter Jazzfest New York, das MonoNeon präsentiert. Während das Festival au Désert diverse Musiker*innen aus Mali mitbringt und das Nyege Nyege in den Sound of Uganda eintaucht, schenkt uns das Jarasum Jazz Festival schließlich eine Korean Jazz Night.
  • enjoy jazz jason moran
    Noch mehr Gratulant*innen: Der US-amerikanische Jazz-Pianist Jason Moran (Foto: Clay Patrick McBride) gibt sich bei Enjoy Jazz ebenso die Ehre wie …
  • enjoy jazz kahil el zabar
    … das Kahil El’Zabar Quartet, das zum Eröffnungsfest am 2. Oktober aufspielt. (Foto: Patrick van Vlerken)
Beschäftigt man sich mit diesen Festivals, ihrer Geschichte und ihren Profilen, stellt man eines fest: Musik findet nie im luftleeren Raum statt, sie hat immer mit gesellschaftlichen Diskursen und Widersprüchen zu tun, und sie kann unterschwellig politisches Bewusstsein prägen, zumindest die Tonspur dazu liefern. Wie passend, dass Peter Kemper in diesem Herbst sein imposantes, 750-seitiges Opus Magnum „The Sound of Rebellion. Zur politischen Ästhetik des Jazz“ herausbringt — und natürlich bei Enjoy Jazz vorstellt. Wie sich der Sound of Rebellion im Jahr 2023 anhört? Moor Mother, Spoken-Word-Artistin, Musikerin, Aktivistin, Lehrerin, könnte eine Antwort liefern. Sie ist ebenso Artist in Residence wie die Schlagzeugerin und Komponistin Terri Lyne Carrington. Beide verbindet nicht nur der Versuch, verschiedene Traditionen in avancierte Klangsprachen zu übersetzen, sondern ihre Kunst in einem Community-Zusammenhang zu sehen — als Möglichkeit, gegen Rassismus, Diskriminierung, Ungleichheit zu kämpfen. Themen, die sich auch Enjoy Jazz seit 25 Jahren auf die Fahnen schreibt.

Eine norwegische Legende

Apropos: Vor einem 25 Jahren erschien Nils Petter Molværs „Khmer“ beim Label ECM — seinerzeit ein Meilenstein, weil es auf organische Weise bislang unverbundene Elemente synthetisierte, mit elektronischen Klängen, kraftvollen Beats, Trip-Hop und Drum’n’Bass sowie mit sphärischen, angerauten Trompetensounds eine eigentümliche, oft melancholische Stimmung erzeugte. Die hatte mit Jazz und Rock, Ambient und Techno zu tun, war aber doch nicht richtig zuzuordnen. Dieses einflussreiche Werk transponiert der Trompeter nun ins Jahr 2023.

Viele Namen sind in diesem Artikel gefallen, aber natürlich nicht alle — dafür ist der Platz zu knapp. Das ausführliche Programm von Enjoy Jazz 2023 lässt sich aber nachlesen und ausführlich studieren. Eines ist schon jetzt klar: Sie sollten sich in den Festivalwochen nicht zu viel anderes vornehmen … ‹


Enjoy Jazz Festival
02. Oktober bis 04. November 2023
verschiedene Locations in der Kulturregion Rhein-Neckar
www.enjoyjazz.de
Bildnachweis:
Elizabeth Leitzell

Enjoy Jazz Festival

Seit seiner Premiere 1999 hat sich Enjoy Jazz zu einem international renommierten Festival und zum größten Jazzfestival Deutschlands entwickelt. Neben Legenden wie Ornette Coleman oder Wayne Shorter präsentiert das „Internationale Festival für Jazz und anderes“ immer auch die Größen der jüngeren Jazzgeneration und spannt den Bogen zu angrenzenden Genres wie Weltmusik, Elektronik, Hip-Hop und Klassik. Komplettiert werden die rund 70 Konzerte durch Workshops, Matineen, Partys und Vorträge.
TerminMO 02. Oktober bis SA 04. November 2023
AdresseEnjoy Jazz GmbH // Bergheimer Straße 153 // 69115 Heidelberg // Tel: 06221 5835850 // E-Mail: info@enjoyjazz.de
SpielorteVerschiedene Orte in und rund um Heidelberg, Mannheim und ­Ludwigshafen
  • Das sollten Sie nicht verpassen

    Wie politisch ist Jazz? – Er ist eine musikjournalistische Instanz: Peter Kemper, Jahrgang 1950, ehemaliger hr-Redak­teur, FAZ-Autor, Jurymitglied des Preises der deutschen Schallplattenkritik und ­Mitorganisa­tor des Deutschen Jazzfestivals Frankfurt. In „The Sound of Rebellion“ stellt er die Frage, wie poli­tisch der Jazz ist. Von Louis Armstrong bis Moor Mother, von den 1920er-Jahren bis in die 2020er, führen die Linien, denen Kemper nachgeht. Da er nicht nur ein kenntnisreicher Autor, sondern auch ein begeisternder Redner ist, darf man sich doppelt auf seine Matinee bei Enjoy Jazz freuen.
    Peter Kemper: The Sound of Rebellion, 15.10.2023, 11 Uhr, Karlstorbahnhof Heidelberg, enjoyjazz.de
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